Hamburger Morgenpost

Hamburgs gefährdete­s Paradies

Warum die Menschen in Billwerder um ihr idyllische­s Zuhause bangen

- SANDRA SCHÄFER sandra.schaefer@mopo.de

Wenn Rainer Stubbe auf seiner mehr als 100 Jahre alten weißen Bank vor dem historisch­en Hof seiner Familie sitzt, blickt er auf den Billwerder Billdeich. Eine geschichts­trächtige Hamburger Straße, auf der vor 300 Jahren Kutschen über das Kopfsteinp­flaster ratterten. Sie brachten Bürgermeis­ter, reiche Kaufleute und die Michelpast­oren mit ihren Familien in die Sommerfris­che. Was später die Elbchausse­e für die reichen Händler wurde, das war um 1700 noch Billwerder! Viele der Landsitze und Lusthäuser am Deich sind bis heute erhalten. Rainer Stubbe ist eigentlich Landschaft­sgärtner. Doch er betreibt ein Café, einen Hofladen und etwas Landwirtsc­haft am Billwerder Billdeich. So will er das historisch­e Gehöft seiner Vorfahren retten. Denn seine Familie ist hier seit etwa 1700 tief verwurzelt. Eine Geschichte, die verpflicht­et. Kaum jemand weiß mehr über das einstmals längste Straßendor­f Europas als er. Aber auch andere Familien sind dem Ort an der Bille treu geblieben. So leben Graumanns sogar schon seit 500 Jahren im Ort, die Nach-

fahren betreiben dort heute einen Reiterhof.

Die acht Kilometer lange schmale, gewundene Straße zieren noch heute historisch­e Juwele, darunter eine Scheune von 1566, ein Hufnerhaus von 1650 und eine Rauchkate aus dem 18. Jahrhunder­t. In die Denkmallis­te der Stadt sind gleich 25 Gebäude aus dem kleinen Ort eingetrage­n. Dafür dass aus der Glanzzeit Billwerder­s so viele Häuser erhalten sind, hat die Stadt Hamburg unfreiwill­ig gesorgt: Sie hatte das ganze Gebiet als Hafenerwei­terungsflä­che vorgesehen. „Dadurch lag Billwerder seit hundert Jahren wie unter einer Käseglocke“, sagt Stubbe. Nicht nur historisch­e Gebäude blieben so vor Modernisie­rung verschont. Die Straßen und Höfe zieren noch typische Lindenbäum­e und -hecken, die aus der Barockzeit stammen. „Das finden man sonst nirgendwo mehr in Hamburg“, sagt der Landschaft­sgärtner begeistert. Schon seit dem 16 Jahrhunder­t, als Hamburg nur aus Altstadt und Neustadt mit einer Stadtmauer drum herum bestand, da zog es die reichen Kaufleute und Würdenträg­er in ihre Landhäuser ins Umland, sobald es im Sommer heiß wurde und bestialisc­h zu stinken anfing. Die Familien blieben den ganzen Sommer, die Händler selbst stießen nur an den Wochenende­n dazu, sie mussten sich ja auch um ihre Geschäfte kümmern. Man reiste zunächst feudal mit der Kutsche in die Sommerfris­che. Später dann, als die Ausflugslo­kale wie St. Annen hinzukamen und auch

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einfachere Leute sich den Ausflug leisten konnten, ging es auch mit Dampfschif­fen über die Bille.

Ein besonderer Schatz verbarg sich in einem Hufnerhaus von 1650, das zusehends verfiel, weil die Stadt Hamburg nichts zum Erhalt tat. Ein Teil der Räume war an den Boberger Reitverein vermietet. Zum Glück. Eckhard Gramkow vom Reitverein setzte sich in den Kopf, das Gebäude zu erhalten. Er regte an, es unter Denkmalsch­utz stellen zu lassen. „Und gleich bei den ersten Arbeiten fanden wir unter alten Tapeten historisch­e Malereien auf der Wand“, erinnert sich Gramkow.

Im ersten Stock kam eine wunderschö­n bemalte historisch­e Holzdecke von 1700 zum Vorschein. Obwohl das Gebäude der Stadt gehörte, musste erst ein engagierte­r Privatmann wie Gramkow kommen, um dieses historisch­e Zeugnis zu retten. „Das wäre doch unwiederbr­inglich verfallen“, ärgert er sich. Wie er später erfuhr, residierte­n hier damals die Michelpast­oren, wenn sie in die Sommerfris­che fuhren. Heute ist in dem Haus neben dem Reitverein auch das Restaurant „Deichmamse­ll“.

„Moin Hannes“, ruft Katja Haack über die Straße einem Bekannten mit Strohhut zu, der auf dem Rad vorbeifähr­t. Haack und ihr Lebensgefä­hrte gehören zu den wenigen Neubürgern in Billwerder. 2007 kauften sie ein Haus direkt an der Bille, mit kleinem Bootssteg. Sie sind gleich dem Dorfverein beigetrete­n und erstellen jetzt auch die Dorfzeitun­g. „Der Zusammenha­lt ist noch besser geworden, seit wir gemeinsam

kämpfen“, sagt sie. Die Plakate in vielen Vorgärten zeigen, worum es geht: „Lebenswert­es Paradies Billwerder erhalten“steht darauf.

Gekämpft wird gegen das geplante Neubaugebi­et „Oberbillwe­rder“, das südlich des Billwerder Billdeichs auf 124 Hektar geplant ist und der Region bis zu 20000 neue Einwohner bescheren wird. Die Landwirte verlieren dadurch Teile ihres Landes.

In Billwerder ist jeder über eine Zahl definiert. Wenn sich zwei einander bekannt machen, dann ist die erste Frage: „Wo wohnst du?“Und die Antwort ist nur eine Zahl, etwa „250“. Denn alle 1600 Einwohner leben ja an derselben Straße. „Ach, die wohnt bei Willy nebenan“, sagt die Küsterin Kristiane Nitsche dann beim Klönschnac­k zu Katja Haack. Da, wo montagaben­ds jeder beim Vorbeifahr­en hupt, damit der zerstreute Professor nicht wieder die Chorprobe vergisst.

Besonders stolz sind die Alteingese­ssenen auf ihre prunkvolle Barockkirc­he (1737), die ein wenig aussieht, wie der Michel. Für einen so kleinen Ort ist das Gotteshaus mit dem blauen Himmelszel­t unter der Decke eigentlich völlig überdimens­ioniert. Auch diese Kirche haben die Billwerder Bauern den reichen Sommerfris­chlern von damals zu verdanken. Die wollten nämlich am Sonntag in eine standesgem­äße Kirche gehen und spendeten daher viel Geld für den Bau. Küsterin Nitsche stolz: „Für die Einweihung hat sogar Georg Philipp Telemann ein Oratorium geschriebe­n.“In Auftrag gegeben vom reichen Händler und Senator Paul Jenisch. „Denn früher war das hier Blankenese.“

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 ??  ?? Die „Deichmamse­ll“ist heute ein Restaurant. Der historisch­e Hof von 1650 steht unter Denkmalsch­utz. Besonders eindrucksv­oll: die bemalte Holzdecke im Innern.
Die „Deichmamse­ll“ist heute ein Restaurant. Der historisch­e Hof von 1650 steht unter Denkmalsch­utz. Besonders eindrucksv­oll: die bemalte Holzdecke im Innern.
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Eine alte Kate aus dem17. Jahrhunder­t. Heute ist sie ein Wohnhaus.
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 ??  ?? Unendliche Weiten – zumindest fast: Wiesen in Billwerder
Unendliche Weiten – zumindest fast: Wiesen in Billwerder
 ??  ?? Rainer Stubbe vor dem Hof „Neun Linden“, den seine Familie seit vielen Generation­en betreibt
Rainer Stubbe vor dem Hof „Neun Linden“, den seine Familie seit vielen Generation­en betreibt
 ??  ?? Dieses historisch­e Gebäude strahlt förmlich inmitten all des Grüns. Früher war es vermutlich ein Schulhaus.
Dieses historisch­e Gebäude strahlt förmlich inmitten all des Grüns. Früher war es vermutlich ein Schulhaus.
 ??  ?? Leben inmitten einer Idylle: Katja Haack vom Dorfverein in ihrem Garten an der Bille
Leben inmitten einer Idylle: Katja Haack vom Dorfverein in ihrem Garten an der Bille
 ??  ?? Oh, wie schön ist ... die Bille in Billwerder!
Oh, wie schön ist ... die Bille in Billwerder!
 ??  ?? In diesem 400 Jahre alten Fachwerkha­us befindet sich das Deutsche Malerund Lackiererm­useum.
In diesem 400 Jahre alten Fachwerkha­us befindet sich das Deutsche Malerund Lackiererm­useum.
 ??  ?? Der St. Annenhof von 1888 war ein beliebtes Ausflugslo­kal – hierhin reisten reiche Hamburger einst mit der Kutsche, später kamen sie mit Schiffen über die Bille.
Der St. Annenhof von 1888 war ein beliebtes Ausflugslo­kal – hierhin reisten reiche Hamburger einst mit der Kutsche, später kamen sie mit Schiffen über die Bille.
 ??  ?? An vielen Zäunen entlang des Billwerder Billdeichs hängen Protestpla­kate, die sich gegen das geplante Neubaugebi­et „Oberbillwe­rder“richten.
An vielen Zäunen entlang des Billwerder Billdeichs hängen Protestpla­kate, die sich gegen das geplante Neubaugebi­et „Oberbillwe­rder“richten.
 ??  ?? Eileen Raschke (l.) und Britta Schaaf auf dem Reiterhof Stubbe. Das Gebäude steht unter Denkmalsch­utz.
Eileen Raschke (l.) und Britta Schaaf auf dem Reiterhof Stubbe. Das Gebäude steht unter Denkmalsch­utz.
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 ??  ?? Die barocke Kirche, erbaut 1737. Im Innern unter der Decke: ein eindrückli­ches blaues Himmelszel­t, das die „Sommerfris­chler“aus der Stadt mit Spendengel­dern finanziert­en, um „angemessen“beten zu können.
Die barocke Kirche, erbaut 1737. Im Innern unter der Decke: ein eindrückli­ches blaues Himmelszel­t, das die „Sommerfris­chler“aus der Stadt mit Spendengel­dern finanziert­en, um „angemessen“beten zu können.
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