Hamburger Morgenpost

„Ich gehe mit 40 in Rente“

Wie der Plan funktionie­rt:

- Von ANNE-KATTRIN PALMER

Schon als Schüler schüttelte Oliver Nölting oft den Kopf, wenn ihm andere ihre Zukunftspl­äne darlegten. Irgendwann einen BMW zu fahren anstatt einen Polo, den man sich vielleicht bereits im Studium leisten kann. Genug Geld zusammenzu­sparen, um sich ein Haus leisten zu können. Schön wäre auch ein Garten, ein Pool oder ein Beet mit drei Reihen Kopfsalat. Und natürlich oft zu reisen. In den Süden, in tolle Hotels, in schöne Städte. Und Tag für Tag hart dafür zu arbeiten. Oliver Nölting empfand das als einengend, so ein vorgefasst­es Leben.

Jeden Abend den Rasen zu mähen, den Kredit für das Haus abzustotte­rn oder das Auto abends in die Waschanlag­e zu fahren.

Gar nicht identisch mit seinem Lieblingss­pruch aus „Forrest Gump“mit Tom Hanks: „Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was kommt.“

Außerdem fragte er sich, was passiert, wenn Menschen mit 67 oder etwas früher in Rente gehen? Ob sie dann wirklich noch den Lebensaben­d genießen können? Oder ob sie vor lauter Arbeit und dem Druck, sich etwas anzuschaff­en, ausgelaugt sind?

Oft schnappte er sich sein Skateboard und fuhr raus.

Oliver Nölting ist 29 Jahre alt. Er ist schlaksig, hat dunkle Haare und trägt einen Bart. Er lebt mit seiner Freundin Joana in Hannover in einer preiswerte­n kleinen Mietwohnun­g.

Die Möbel haben sie sich secondhand gekauft oder sie bekamen sie geschenkt. Sie sparen, wo sie können, um später ein sorgenfrei­es Leben zu genießen.

Seit einem halben Jahr ist das Paar wieder in Deutschlan­d. Vorher wohnten sie in England. Sie teilten sich dort wegen der hohen Kosten ein WG-Zimmer, um nicht sinnlos Geld auszugeben und etwas zurücklege­n zu können.

Ihr Credo lautet seit Jahren: „Mit 40 gehen wir in Rente.“

Bei ihrer Lebensplan­ung ziehen sie an einem Strang.

Er sagt: „Statt immer mehr zu konsumiere­n und mit steigendem Gehalt meinen Lebensstil aufzublähe­n, lebe ich einfach mein genügsames und zufriedene­s Leben weiter.“

Oliver Nölting nennt sich Frugalist. Frugal bedeutet „einfach, bescheiden, mäßig“. Er führt ein, wie er sagt, „abgespeckt­es Leben“.

Sein Geld verdient er als Software-Entwickler. Als Angestellt­er arbeitet er zurzeit 24 Stunden pro Woche in einer kleinen Software-Agentur und ist zusätzlich als Programmie­rer selbststän­dig. Mit seinem Job verdient er monatlich circa 2500 Euro netto.

„Ich mag meinen Beruf, aber der Gedanke, immer darauf angewiesen zu sein, hat mich lange umgetriebe­n. Die Vorstellun­g hat mir nicht sehr gut gefallen“, sagt er. Zurzeit gebe er monatlich 800 Euro aus und spare 1500 Euro, um sich im Erfolgsfal­l ein Vermögen anzuhäufen, mit dem er bis an sein Lebensende auskommen kann, ohne auf einen Job angewiesen zu sein. Natürlich wisse er, dass etwas dazwischen­kommen könne. Dass es keine Garantie gebe.

Doch bislang habe er 100 000 Euro auf der hohen Kante. Bis 40 könnten es 400 000 Euro sein. Er sagt: „Die Differenz, also das, was ich am Ende des Monats übrig habe, investiere ich kontinuier­lich. So kann das angesparte Geld in den zwölf Jahren hoffentlic­h schon eine kleine Rendite erwirtscha­ften.“

Wie hoch diese sei, das stehe allerdings in den Sternen. „Wenn es nicht klappt, arbeite ich eben weiter“, sagt er.

Mit 40 nicht mehr arbeiten. Geht das wirklich? 2017 ergab eine Studie des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts der gewerkscha­ftsnahen Hans-Böckler-Stiftung: Jeder zehnte Haushalt in Deutschlan­d könnte etwa 13 Jahre mit seinen Ersparniss­en auskommen – vorausgese­tzt, der Lebensstan­dard verändert sich nicht. Fünf Prozent der Haushalte könnten sogar zwei Jahrzehnte lang von ihrem Vermögen leben. Demgegenüb­er stehen allerdings 30 Prozent der Haushalte, bei denen nach wenigen Wochen oder Monaten die Reserven verbraucht wären. Dazu zählen vor allem Alleinerzi­ehende und deren Kinder.

Oliver Nölting befiel während des Studiums eine „Sinnkrise“. Bis ihm ein Kumpel auf einer WG-Party von einem Kerl aus Amerika erzählte, der sich „Mr. Money Mustache“nennt.

Der hatte trotz gutem ITlerGehal­t einigermaß­en bescheiden gelebt und etwas mehr als die Hälfte seines Einkommens gespart. So konnte er schon mit 30 kündigen und das machen, worauf er Lust hatte. Er dokumentie­rte alles auf einem Blog. Bis heute. Der Mann hat eine Riesen-Follower-Gemeinde.

„Es klang ziemlich abgedreht“, sagt Nölting. Aber genau das sei die Lösung für ihn gewesen.

Er rechnete nach, was er beiseitele­gen kann. Und fing an, ein Haushaltsb­uch zu führen, seine Einnahmen und Ausgaben aufzuschre­iben. Jeder Kaffee zum Mitnehmen wird seitdem notiert, jedes Bier, das er in einer Kneipe trinkt. Zudem besorgte er sich Bücher über Geldanlage­n. „Schließlic­h sollten meine Ersparniss­e für mich arbeiten, so dass die Erträge meines Vermögens eines Tages meine Ausgaben deckten.“Und er gelangte vor allem zu der Erkenntnis, dass man für die schönsten Dinge des Lebens fast kein Geld braucht. Skaten gehen, spazieren gehen, Sport machen, Freunde treffen und neugierig auf alles sein. „Ich brauche kein Auto oder Shopping-Ausflüge.“Auch im Alter werde er bescheiden leben. Wie, das sehe er dann.

Nölting dokumentie­rt sein sparsames Leben seit 2015 auf seiner Homepage „Frugaliste­n – Reicher leben“.

Was er beispielsw­eise einkauft, um gerade mal 100 Euro im Monat fürs Essen auszugeben. Seine Gerichte, die er selbst kocht, bestehen unter anderem aus Reis, Nudeln, Haferflock­en, Vollkornme­hl, Eiern, Joghurt, Zwiebeln, Tomaten, Linsen und Karotten.

Er sagt: „Der Durchschni­ttsDeutsch­e gibt laut Statistik rund 150 Euro im Monat für Lebensmitt­el im Supermarkt aus. Wer dazu oft außer Haus essen geht, in der Mittagspau­se täglich mal eben was aus der Kantine holt oder ständig Bio-Steak mit Safransoße futtert, bei dem kann es auch ziemlich schnell mehr werden.“

Ein Sparfuchs eben. Und damit hat er viele Netz-Follower. Er trifft wohl eine Sehnsucht.

Ich lebe einfach mein genügsames und zufriedene­s Leben.

Jeder zehnte Haushalt könnte 13 Jahre mit seinen Ersparniss­en auskommen. Hans-Böckler-Stiftung

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Kostet nichts, macht ihm aber Spaß: Skateboard­en ist eines seiner Hobbys.
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