Geht doch mal!
„Stern“-Reporter Uli Hauser wanderte von Eimsbüttel nach Rom. Sein Fazit: Wir sind dabei, unseren Körper lahmzulegen – und sollten im Alltag mehr zu Fuß erledigen
Ich habe es heute wieder getan. Ich bin zu Fuß gegangen. 40 Minuten durch die Stadt ins Büro. In der Sonne. War schön, an der frischen Luft. Mit Stehen und Sitzen in der Bahn hätte ich zehn Minuten weniger gebraucht. Aber es wäre mir nicht so gut ergangen.
Geht doch: Vor einem Jahr bin ich in Hamburg los, mir die Füße zu vertreten. Ich wollte spüren, wie das ist, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Ich wollte wissen, wie weit ich komme. Ohne große Vorbereitung, mit einem alten Rucksack, in alten Schuhen. So wie früher, neugierig sein wie ein Kind. Alter, dachte ich, was wohl als Nächstes kommt, was um die Ecke liegt?
Das Sitzen, ich hatte es so satt. Jemanden treffen: sitzen. Was besprechen: sitzen. Essen: sitzen. Nur der Kaffee, der war to go. Ich war Büromensch geworden. Ein Stubenhocker. Kaum aus dem Bett stand da ein Stuhl. Mir gefiel der Gedanke, mein Ziel aus eigener Kraft zu erreichen. Joggen kannte ich, einmal um die Alster. Aber geradeaus und nicht im Kreis, das war neu.
Aus Eimsbüttel über die Elbe nach Rom. Es hatte sich so ergeben, es war Sommer. Ich lief und lief. Meine Tage waren hell. Ich nahm mir vor, mich nie wieder hetzen zu lassen. Weder von mir. Noch von anderen. Im Moment leben, das sagt sich so leicht; ich kam diesem Gefühl verdammt nah. Ich habe es mir erlaufen.
Seither gehe ich mehr zu Fuß. Mein Körper will das so. Ein bisschen früher los und trotzdem pünktlich sein. Sich nicht umziehen müssen, um Sport zu machen. Bauch, Beine, Po: geht auch so. Nix Laufband, freie Strecke. Na, fragen die Kollegen, was hast du am Wochenende gemacht? Och, sage ich, ich bin zum Zug gelaufen.
Die Ärzte sagen, wir brauchen mehr Bewegung. Aber Bewegung stört, so wie wir unser Leben eingerichtet haben. In der Schule und im Büro, vor dem Fernseher oder eben auch beim Arzt. Wir sind dabei, unseren Körper lahmzulegen. Vielen geht es nicht gut damit, aber viele können auch damit leben. Sie nehmen lieber Pillen, als ihr Leben zu ändern. Lassen laufen, statt selbst zu gehen.
Wenn heute noch was geht, dann auf die Knochen. Vier von fünf Deutschen beklagen Schmerzen in Schulter und Nacken und Last mit der Wirbelsäule und Vorfälle mit der Bandscheibe. „Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems“, heißt es im jüngsten Gesundheitsreport der Deutschen Allgemeinen Krankenkasse (DAK), „lagen mit 319,5 Arbeitsunfähigkeitstagen pro 100 Versichertenjahre wieder an der Spitze aller Krankheitsarten.“
Die Zahl übergewichtiger Kinder stieg in wenigen Jahren weltweit um das Zehnfache. In Deutschland schafft es nur jeder zweite Junge und jedes dritte Mädchen, bei der Rumpfbeuge
mit gestrecktem Bein mit dem Finger den Boden zu berühren. Im Sportunterricht mal zwei Runden zu laufen, bedeutet für viele Kinder Höchststrafe; mal rückwärtszugehen wird auch zum Problem. Und den Krankenkassen laufen die Kosten davon.
In kaum einem anderen Land wird so viel Geld mit künstlichen Gelenken verdient. Fast keiner, der ohne Schuheinlage auskommt. Und ohne Plastik da unten. Die meisten sind in Sneakern unterwegs, auf flachen Sohlen, gefühlt bequem, gefüllt mit Schaum. „To sneak“bedeutet „schleichen“.
Der Kopf also tut so, als gingen ihn Füße nichts an. Diese 70 000 Nervenenden, die da unten zusammenlaufen. Ein Weltwunder, das wir kaum würdigen. Noch haben wir ein Gesundheitssystem, das auch Unvernunft bezahlt. Was wäre, wenn an krank machenden Schuhen ein kleines Schild klebte: „Diese Schuhe gefährden Ihre Gesundheit“? Oder diese Schuhe aus öffentlichen Räumen verbannt würden: „Das Tragen von gesundheitsschädlichen Schuhen ist hier verboten.“
Mögen viele Menschen auch lieber abheben und Entfernung in engen Sitzreihen überbrücken: Mich reizt die Aussicht, jetzt mal eben schnell in ein, zwei Stunden Hunderte Kilometer weiter zu kommen, nicht mehr. Ich erinnere mich an Gespräche mit Freunden, die stolz berichteten, sie seien für ein paar Cent nach London geflogen oder für hundert Euro nach New York. Billigflieger machen den Wahnsinn heute ja möglich: An euch, sagte ich dann, wird der Klimawandel nicht scheitern.
Wir sind Zeugen einer Zeitenwende. Etwas ist im Gange, aber wir wollen es nicht wahrhaben. In diesem Sommer bekommen wir eine Ahnung davon, wie es sein wird, wenn das Klima nicht mehr prima ist. Eigentlich müssten wir in Panik geraten. Aufruhr allerorten. Aber so richtig in Bewegung kommen wir nicht. Lieber heben wir ab mit dem nächsten Flieger. Ich bin für „Easy Going“statt Easyjet. Wollen wir alles, was machbar ist, auch tun? Alles, was möglich scheint, verwirklichen? Oder sollten wir nicht einfach mal ein bisschen mehr vor die Tür gehen? Ich kann jedem nur empfehlen, auch mal ein paar Schritte mehr zu wagen, muss ja nicht gleich so weit sein. Um die Ecke geht auch. Es ist keine Zauberei. Man braucht dafür keine Warnweste und bunte Schuhe oder eine Extra-Hose mit Leuchtstreifen. Könnte ich nicht? Schaffe ich nicht? Traut euch! Nicht immer wegfahren – weggehen. Mal den Körper frei bekommen. Nicht nur den Kopf. Die Muskeln lockern, aus dem Vollen schöpfen. Sich neu erleben, das Sehnen und Dehnen und Strecken. Wolken, Wind und Weite. Und die Wangen, wohlig warm, nach ein paar Kilometern draußen. Raus mit euch! Geht doch!