Noch ist Sachsen nicht verloren!
Pogromartige Szenen in Chemnitz, Dresdens pöbelnde „Hutbürger“, Polizisten mit Verständnis für den rechten Mob: Was ist los in Deutschlands „fernem Osten“?
Es läuft etwas falsch mitten in Deutschland. In Sachsen, das sich ja im Selbstverständnis als Teil „Mitteldeutschlands“sieht (gehen wir mal von der Nord-Süd-Perspektive aus). Am Sonntag marschierten fast 1000 rechtsverwirrte Demonstranten durch Chemnitz, drittgrößte Stadt des Landes. Es soll zu regelrechten Treibjagden auf „anders Aussehende“gekommen sein (Überflüssig zu erwähnen, dass die vorausgegangene tödliche Messerattacke, mutmaßlich begangen von zwei Arabern, verabscheuungswürdig ist.) Zuvor wurden in Dresden TV-Journalisten von der Polizei geschlagene 45 Minuten festgesetzt, vorausgegangen war ein bizarrer Streit mit einem PegidaMann, der sich auch noch als LKA-Mitarbeiter entpuppte. Warum immer wieder Sachsen?
Gut, man könnte das alles als überzogene Wahrnehmung von Missgriffen Einzelner abtun – wäre es nicht in Sachsen passiert. Dem einzigen Bundesland also, in dem bei der letzten Bundestagswahl die AfD stärkste Partei wurde. Jenes Sachsen auch, in dem ein Team des RBB, das bei einer anderen Pegida-Demo vor Schlägern schutzsuchend von der Polizei mit den Worten empfangen wurde: Wer anständig berichte, werde auch nicht bedroht. Jenes Sachsen auch, in dem sich der CDUFraktionschef nach ZDF-Berichten über den jüngsten „Hutbürgerstreich“auf Facebook beschwerte: „... dafür bezahlen wir Beiträge ...“
Jenes Sachsen also, wo Ende 2017 ein Logo in neuen Panzerfahrzeugen der Polizei wegen seiner Ähnlichkeit mit NS-Symbolik auffiel. Jenes Sachsen, in dessen Gemeinde Clausnitz 2016 eine lauthals pöbelnde Menge einen Bus mit Flüchtlingen belagerte. Und wo ein Beamter einen Verängstigten, der den Bus nicht verlassen wollte, im Polizeigriff durch die Mauer des Hasses schleppte. Das Sachsen, wo die Polizei Rechtsextreme gern mal als „eventbetonte Jugendliche“(Bautzen) verharmlost, wo man Pegida-Aktivisten „einen erfolgreichen Tag“wünscht (Dresden).
Das Sachsen, wo ein Reporter der „Sächsischen Zeitung“, der auch Schutz vor Schlägern suchte, sich vom Einsatzleiter anhören musste: „Ihr seid ja die Lügenpresse. Pegida hat recht, ich schütz‘ euch jetzt nur, weil ich eine Uniform anhabe …“
Dass sich der rechte Ungeist längst ins sächsische Kulturleben gefressen hat, verdeutlichte im März der Dresdner Erfolgsautor Uwe Tellkamp, als er in einer öffentlichen Diskussion Pegida-Parolen verteidigte und sich als Opfer von „Gesinnungsdiktatur“, „verbaler Bücherverbrennung“und „Berufsverboten“gerierte.
Sicher, Beispiele aus anderen Bundesländern finden sich zur Genüge. Mit dem Unterschied: Im kleinen Sachsen ist diese Liste unvergleichlich lang. Warum ist das so? Warum fühlen sich viele
Hamburger oder Berliner
Menschen in Paris, Kopenhagen, Amsterdam kulturell näher als ihren Landsleuten in Bautzen
Warum fühlen sich viele Hamburger Menschen in Kopenhagen oder Paris kulturell näher als ihren Landsleuten in Bautzen?
oder Görlitz? Schließen wir mal „genetische Besonderheiten“aus, vielleicht hilft ja ein Blick in die Geschichte. Hat ein Teil Sachsens, der zu DDRZeiten ein Schattendasein ohne internationale Besucherströme, frei von Migration und ohne „Westfernsehen“führte, das „Tal der Ahnungslosen“in Wahrheit nie verlassen? Während die weltoffeneren Städte Leipzig und Berlin im Herbst 1989 die SED besiegten, „erwachte“Dresden erstmals lautstark am 19. Dezember 1989 – mit nationalen Phrasen, schwarz-rot-goldene Fahnen schwingend und „Deutschland! Deutschland!“und „Einheit, Einheit“grölend. Mit ein wenig Fantasie könnte man darin einen Vorläufer von Pegida sehen. Und ein Verdacht drängt sich auf: dass nämlich viele Ostdeutsche, vor allem in Ostsachsen, dieser Bundesrepublik, die schon 1990 ziemlich bunt war, mental nie wirklich beigetreten sind. Ihr Bild des gemeinsamen Vaterlandes knüpfte eher an ein Land an, das es seit den 60er Jahren nicht mehr gibt: ethnisch homogen, wertekonservativ, traditionell.
Doch Verallgemeinerungen helfen nicht weiter, denn auch das ist Sachsen: Frank, ein Freund aus Jugendjahren und wie ich in Leipzig geboren, ist schwarz, schwul, praktiziert im Berliner Osten als Zahnarzt. Regelmäßig ist er in Dresden, wo die Mutter seines Kindes wohnt – sie lebt in einer lesbischen Beziehung. Eigentlich nicht der Erwähnung wert: Aber Frank hatte nie das Gefühl, sich in Dresden unwohl zu fühlen, hat nie dumme Sprüche gehört, selbst angesichts dieser eher ungewöhnlichen Konstellation. Solange sich Menschen wie Frank in Dresden wohlfühlen, so lange ist Sachen noch nicht verloren!