Gigantischer Verlust für die Wissenschaft
Kritik am Staatsarchiv nimmt zu
Es gibt unter Archivaren ein ungeschriebenes Gesetz: Akten aus der NS-Zeit niemals zu vernichten. Dass das Staatsarchiv gegen diese Regel verstoßen hat (MOPO berichtete), ruft zunehmend Empörung hervor.
Nach dem Vorsitzenden des Vereins für Hamburgische Geschichte, Professor Rainer Nicolaysen, ist es nun der Historiker Wolfgang Kopitzsch, Hamburgs Ex-Polizeipräsident, der Konsequenzen fordert. Der vernichtete Aktenbestand sei von „besonderem Wert gewesen“. Kopitzsch, der auch Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter und inhaftierter Sozialdemokraten ist, fordert „nicht nur lückenlose Aufklärung“, sondern auch eine konsequente Dienst- und Fachaufsicht, um weitere Fehlentscheidungen zu verhindern.
Das Staatsarchiv hatte im Juli mehr als eine Million Todesbescheinigungen aus den Jahren 1876 bis 1953 dem Reißwolf überantwortet – darunter: die Todesbescheinigungen unzähliger NS-Opfer. Wieso das Staatsarchiv die Dokumente vernichtete? Das erklärt Dr. Udo Schäfer, der Leiter, so: „2010 konnte das Staatsarchiv aufgrund der Reform des Personenstandsrechts die hamburgischen Sterberegister der Jahrgänge 1876 bis 1980 als Archivgut übernehmen.“Daher gingen die Archivare davon aus, dass die Todesbescheinigungen „keinen Mehrwert“mehr haben und deshalb vernichtet werden konnten. 43 laufende Meter Papier – über Nacht entsorgt.
Dumm nur: Wesentliche Informationen aus den Todesbescheinigungen sind in den Sterberegistern gar nicht enthalten: Vor 1938 fehlt beispielsweise die Todesursache – ob jemand hingerichtet wurde oder einen Herzinfarkt erlitt, ist nicht mehr zu klären. Auch Name und Unterschrift des Arztes, der den Tod feststellte, fehlen jetzt. Ein gigantischer Verlust für die Wissenschaft: Bei den Euthanasieopfern etwa dürfte der Arzt, der den Tod eines Menschen feststellte, auch derjenige sein, der ihn herbeiführte.
Professor Rainer Nicolaysen, der Chef des Vereins für Hamburgische Geschichte, nennt das Aktenschreddern einen „Skandal“und fordert die Einrichtung einer unabhängigen Kommission, die die Entscheidungsabläufe im Staatsarchiv unter die Lupe nimmt. Dr. Udo Schäfer, der Leiter des Staatsarchivs, räumte inzwischen ein, er würde seine Entscheidung heute so nicht mehr treffen.