Hamburger Morgenpost

Die Neustadt bangt um ihre berühmte Tempel-Ruine

Trotz Denkmalsch­utzes verfällt die Wiege des Reform-Judentums immer mehr

- Von THOMAS HIRSCHBIEG­EL

Die Tempel-Ruine liegt versteckt in einem Hinterhof der Neustadt. Nur wenige Hamburger wissen von ihrer Existenz. Doch der Bau zieht Besucher aus der ganzen Welt an. Die ReformSyna­goge an der Poolstraße war die Wiege des liberalen Judentums. Aber das einmalige Kulturdenk­mal ist in akuter Gefahr: Es verfällt immer mehr, zudem plant der Grundstück­sbesitzer auf dem Areal einen Neubau.

Poolstraße 12-14 – das ist zunächst einmal ein schöner Altbau mit etwa 20 Mietwohnun­gen. Wer dann aber die Einfahrt zur alteingese­ssenen Werkstatt „Auto Stern“durchquert, der stößt auf ein Areal, das aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Die Werkstatt befindet sich in Gebäuden, die ehemals zur Synagoge gehörten, und ist sympathisc­h altmodisch. „Wir sind seit 46 Jahren hier ansässig und würden auch sehr gern bleiben“, sagt Geschäftsf­ührer Thorben Stern (32).

Doch die Zukunft des Betriebs steht in den Sternen. Das liegt an dem Areal hinter der Werkstatt: Für einen Hinterhof ist das Gelände sehr groß – ein Paradies für jeden Projektent­wickler. Wenn da nicht diese gigantisch­e Ruine wäre.

1817 hatten sich in Hamburg 65 „Jüdische Hausväter“getroffen und den Tempelvere­in gegründet. Ihr Ziel war es, die jüdische Religion zeitgemäß zu reformiere­n. Diese Gründungsv­äter des liberalen Judentums, dem sich heute etwa jeder Achte der 14 Millionen Juden zugehörig fühlt, wollten in der Neustadt einen repräsenta­tiven Tempel errichten.

1844 war es so weit. Auch der Dichter Heinrich Heine (1797-1856) fühlte sich dem aufkläreri­schen Reform-Judentum verbunden. In Anspielung auf Konflikte mit den orthodoxen Juden reimte er 1843 spöttisch kurz vor der Eröffnung des Tempels: „Die Juden teilen sich wieder ein – in zwei verschiede­ne Parteien. Die Alten gehen in die Synagog, und in den Tempel die Neuen.“

Der damals vermutlich reichste Mann Hamburgs, der Bankier Salomon Heine, hatte den Tempel mitfinanzi­ert. Er war der Onkel des weltberühm­ten Dichters und ein großer Wohltäter.

Während der „Reichspogr­omnacht“ 1938 wurde die Synagoge in der Neustadt vermutlich nur deswegen von den Nazis nicht angesteckt, weil diese die umliegende­n Wohnhäuser nicht gefährden wollten. 1944 aber vernichtet­en die Bomben einen Großteil des Tempels. Doch die Reste der Apsis und der westlichen Torhalle blieben erhalten und verfallen immer mehr – und das, obwohl sie seit 2003 unter Denkmalsch­utz stehen.

Für Quartiersm­anager Sascha Bartz handelt es sich um ein „einzigarti­ges und besonders erhaltensw­ertes Ensemble“. Kristina Sassensche­idt, die Vorsitzend­e des Denkmalver­eins, spricht von einem „besorgnise­rregenden Zustand“. Der renommiert­e Historiker Franklin Kopitzsch hält den Zustand sogar für einen Skandal: „Das ist ein unhaltbare­r Zustand, für den man sich schämen muss.“

Grundstück­sbesitzer ist Michael Jester. Er sagte der MOPO: „Wir bemühen uns, für das Grundstück eine sinnvolle Entwicklun­g unter Beachtung der historisch­en Bausubstan­z zu erreichen.“Dabei sei man mit der Stadt im Gespräch. 2016 hatte er einen Antrag auf Wohnungsba­u gestellt, aber nicht weiter verfolgt. Anwohner sprechen jetzt davon, dass möglicherw­eise ein Hotel geplant sei.

Inzwischen verfallen die Tempelrest­e immer weiter. Aus dem komplett offenen Dachbereic­h ragen schon zwei kleine Bäume. Das Mauerwerk ist komplett marode und vermittelt den Eindruck, es könne jederzeit einstürzen.

 ??  ?? Historisch­e Bilder des 1844 an der Poolstraße eingeweiht­en Tempels. Das dreischif ige Gebäude entstand nach Entwürfen des Architekte­n Johann Klees-Wülbern.
Historisch­e Bilder des 1844 an der Poolstraße eingeweiht­en Tempels. Das dreischif ige Gebäude entstand nach Entwürfen des Architekte­n Johann Klees-Wülbern.
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