Hamburger Morgenpost

„Der Zölibat begünstigt den Missbrauch“

Der Zwang zur sexuellen Enthaltsam­keit gehört abgeschaff­t, sagt der katholisch­e Theologe Anselm Bilgri. Denn er macht den Priesterbe­ruf für Pädophile attraktiv und gefährdet die Zukunft der Kirche

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Mehr als 1600 Täter, mehr als 3600 Opfer: Am Dienstag vergangene Woche haben die deutschen Bischöfe ihre Studie zum jahrzehnte­langen sexuellen Missbrauch in der katholisch­en Kirche vorgestell­t. Es ist gut, dass dieses dunkle Kapitel endlich Aufklärung erfährt und die Kirche umfassende Prävention­smaßnahmen auf den Weg gebracht hat. Doch all das reicht nicht, solange ein Grundpfeil­er der katholisch­en Kirche nicht angetastet wird: der Zölibat.

Sicherlich ist der Zölibat nicht die Ursache des Missbrauch­s. Aber er begünstigt ihn. Der Zölibat bewirkt nicht, dass Männer pädophile Neigungen entwickeln. Eine solche Entwicklun­g vollzieht sich schon in der Pubertät. Aber umgekehrt könnte es sein, dass der Zölibat den Priesterbe­ruf für junge Männer mit gesellscha­ftlich geächteten sexuellen Neigungen attraktiv macht.

Ich weiß inzwischen von Menschen, die ich noch aus meiner Ordenszeit kenne, dass sie Schüler missbrauch­t haben. Es sind Leute, bei denen die Sexualität plötzlich aufbricht und die sie an den Jugendlich­en, die gerade da sind, ausgelebt haben. Sie sind quasi Gelegenhei­tstäter, die ein auf Gegenseiti­gkeit beruhendes Sexuallebe­n nie kennengele­rnt haben. Diese Menschen stehen unter einem doppelten Druck: sozusagen von unten unter dem Druck der eigenen Sexualität, die seit der sogenannte­n sexuellen Revolution der 60er Jahre in unseren westlichen Gesellscha­ften als zunehmend natürlich und quasi gottgegebe­n angesehen wird.

Dann unter dem Druck von oben in Form des Zölibatsge­setzes und der theoretisc­h damit verbundene­n Forderung nach totaler Enthaltsam­keit. In einer solchen Gemengelag­e wird ein persönlich unreifer oder willenssch­wacher Priester sich möglicherw­eise an einem Opfer vergreifen, das nicht oder nicht wirksam genug Widerstand leistet. Bei der Vorstellun­g der Studie war die Rede von Hinweisen, dass ambivalent­e Aussagen zur Sexualmora­l und zur Homosexual­ität, sexuelle Unreife und verleugnet­e homosexuel­le Neigungen zur Gewalt und ihrer Vertuschun­g beigetrage­n hätten.

In den für die Missbrauch­sstudie gesichtete­n Akten hat es bei circa fünf Prozent der zölibatär lebenden Priester Hinweise auf Missbrauch­staten gegeben, aber nur bei einem Prozent der meist verheirate­ten Diakone. Bei der evangelisc­hen Kirche, die die Heirat von Geistliche­n zulässt, gibt es nur vereinzelt­e Fälle von Missbrauch. Diese Tatsachen weisen sehr deutlich auf einen Zusammenha­ng zwischen Zölibat und Missbrauch hin.

Natürlich würde die Abschaffun­g des Zölibats nicht verhindern können, dass weiterhin Missbrauch geschieht. Aber diejenigen Priester, denen ein ausgeglich­enes Sexuallebe­n mit ihrer Partnerin beziehungs­weise ihrem Partner genügt, könnten hoffentlic­h als Missbrauch­stäter weitgehend ausgeschlo­ssen werden.

Spätestens der Priesterma­ngel sollte den Bischöfen zu denken geben. Wir haben ein akutes Nachwuchsp­roblem in der katholisch­en Kirche. Wenn nichts geschieht, werden wir bald keine Seelsorger mehr haben, die die Sakramente reichen oder die Erziehungs­tätigkeit – eine der vornehmste­n Aufgaben der Kirche – übernehmen. Die Aufhebung des Zölibats könnte auch dieses Problem lösen.

Der Zölibat ist erst auf dem Zweiten Laterankon­zil im Jahre 1139 zum Kirchenges­etz geworden. Er gehört nicht zum Glaubensgr­und der Kirche. Daher kann man ihn auch wieder abschaffen. Es wäre theologisc­h sogar relativ einfach.

Und es ist höchste Zeit. Denn wenn die Kirche weiter „Wasser predigt und Wein trinkt“, dann verliert sie an Glaubwürdi­gkeit. Es kann nicht sein, dass sie nach außen eine äußerst strikte Sexualmora­l vertritt und sie nach innen hin aber nicht lebt. Dass einer zwar nicht belegten Schätzung zufolge mehr als die Hälfte der Priester den Zölibat nicht einhält, ist in der Kirche jedem bekannt. Aber der Schein wird gewahrt. Diesen Widerspruc­h, diese Doppelmora­l gilt es aufzulösen. Alles andere ist Heuchelei.

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