Hommage an ein verlorenes Stück Norddeutschland
BESTSELLER-AUTORIN Knorrig und kitschfrei: Heute erscheint der neue Roman von Dörte Hansen („Altes Land“)
Die Welt geht unter in Brinkebüll. Oder, wie Marret Feddersen es schon im zweiten Satz sagt: „De Welt geiht ünner.“Heute erscheint Dörte Hansens neuer Roman: eine Hommage an eine untergegangene Welt, an das norddeutsche Dorfleben, das nach der großen Flurbereinigung in den 60er Jahren unwiederbringlich verloren ging – und mit ihm Dorfkastanien, Mühlenteiche und die allen Dorfbewohnern heilige „Mittagsstunde“.
Marret „Ünnergang“Feddersen ist die etwas sonderbare Tochter des Gastwirts von Brinkebüll, einem fiktiven Geestdorf: „Marret war verdreiht.“Sie kann Fledermäuse hören, verschwindet und taucht auf, klappert auf Latschen durchs Dorf, singt Schlager.
Im Sommer 1965, kommen Ingenieure in den Gasthof Feddersen. Und als die fertig sind mit der Flurbereinigung, ist die Brinkebüller Feldmark „aufgeräumt und übersichtlich“– und Marret Feddersen ist schwanger.
Städter neigen ja dazu, das Landleben idyllisch zu finden. Überall Grün, jeder kennt jeden und alle schnacken Platt, wie niedlich. Hansen rückt diese verklärte Sicht gerade, mit Vergnügen und lakonischer Poesie („An den Koppelrändern standen Kühe mit gesenkten Köpfen wie Melancholiker an Bahnsteigkanten“). Das war schon in „Altes Land“so, ihrem Debüt, das sie 2017 in den Bestsellerhimmel katapultierte.
Auch in „Mittagsstunde“schreibt sie von Blumenkübeln aus Waschbeton und von verklinkerten Bauernhäusern, die an vollverzinkten Gartenzäunen stehen „wie unglückliche Bräute, die keiner haben wollte“.
Sie ist in Högel aufgewachsen, im Kreis Nordfrieslands. Platt war nicht niedlich, sondern Alltagssprache, der Vater Betreiber der örtlichen Landmaschinenwerkstatt. Die Flurbereinigung war hier so ein wichtiges Ereignis, das in Högel sogar ein Gedenkstein daran erinnert: „Flurbereinigung 1966“.
Wie Ingwer Feddersen, Marrets Sohn, war die kleine Dörte eines der „Kapuzenkinder“, die frühmorgens mit dem Schulbus über die Dörfer gondelten, zum Gymnasium nach Husum oder Niebüll. Und nach der Schule unbemerkt durch die Hintertür ins Haus schlüpften, während ihre Eltern Mittagsschlaf hielten: „Niemand konnte leiser essen und Treppen geräuschloser hinaufschleichen als Kinder, die in Nordfriesland aufgewachsen waren. Wenn es etwas gab, was den Menschen hier heilig war, dann war es ihre Mittagsstunde.“
Wie Ingwer hat sie das Dorf ihrer Kindheit verlassen und in Kiel studiert, fühlte sich wie ihre Figur fremd: „Wir Bauernkinder mussten uns durchbeißen“, sagt Dörte Hansen in einem Interview mit dem „Stern“.
Vermutlich wird „Mittagsstunde“der erste Bestseller zum Thema Flurbereinigung werden, voll knorriger Charaktere, kitschfrei und mit viel Insiderwissen. Das schafft nur ein einstiges Bauernkind.
Dörte Hansen: „Mittagsstunde“, Penguin-Verlag, 320 Seiten, 22 Euro