Nachruf auf eine Volkspartei
Europas ältester politischer Partei droht der Untergang – im 156. Jahr ihres Bestehens. Deutschlands Demokratie ohne Sozialdemokraten? Schwer vorstellbar
Der Fußball-„Philosoph“Gary Lineker würde es so formulieren: Wahltag in Deutschland ist, wenn Millionen zu den Urnen strömen – und am Ende die SPD verliert … Wie jetzt in Bayern, wo die große alte Dame der deutschen Parteienlandschaft erstmals einstellig auf das Niveau einer Splitterpartei schrumpfte. Ist das fair, angesichts der Tatsache, dass sie in Bayern nie regierte und gar keine Gelegenheit hatte, etwas so grundlegend falsch zu machen?
Im Netz gibt es viel Häme über die geschredderte Volkspartei. Da wird die SPD mit dem HSV verglichen, der jetzt die Zweitklassigkeit droht. „Selbst die Kaffeesahne von Altmaier hat mehr Prozent als die SPD“, twitterte ein Nutzer. Andere lästern, endlich habe die SPD ihr Thema für die Zukunft gefunden: „Weg mit der Fünf-Prozent-Hürde!“
Witzig? Nicht wirklich. Denn in Wahrheit stirbt mit der SPD ein Stück deutsche Demokratiegeschichte. Okay, noch lebt sie – doch schon jetzt kann man sagen, dass die SPD keine Volkspartei mehr ist. Und es vermutlich nie wieder sein wird.
Eine Partei, die demnächst 156. Geburtstag feiert, die im Kaiserreich erst verboten wurde und ihm dann die ersten Sozialreformen eines modernen Industriestaates abtrotzte. Eine Partei, die Geburtshelfer der ersten Demokratie Deutschlands war und diese dann gegen Anfeindungen von radikalen Linken und Rechten verteidigte, die sich als letzte Bastion der Demokratie den Nazis entgegenstellte, deren Mitglieder von Hitler ins KZ und von Stalins Handlangern in den Gulag geworfen wurden. Eine Partei, die verhindert hat, dass die Bundesrepublik vom konservativen Mief durchsetzt wurde, die mit ihrer Ostpolitik den Kalten Krieg für beide Seiten erträglicher und den Ausbruch eines heißen Krieges unwahrscheinlicher gemacht hat – wirft man die so leichtfertig auf den Müllhaufen der Geschichte?
Deutschlands Wähler scheinen dazu bereit zu sein. Man wirft der SPD vor, was früher einmal ihre Stärke war: Sie übernimmt Verantwortung, wie Anfang des Jahres in Berlin, während sich andere in die Büsche schlugen. Und sie zeigt sich kompromissbereit. Prinzipien, die ihr schon die Altvorderen Ferdinand Lassalle und August Bebel genetisch verordneten: einerseits Partei des kleines Mannes sein, anderseits dem Land dienen. Helmut Schmidts Nachrüstung, Gerhard Schröders Agenda-Reform, der GroKo-Beitritt von Andrea Nahles sind Beispiele dafür. Wo andere von der reinen Lehre träumten, versuchte die SPD Machbares umzusetzen. Um dann vom Wähler auf die Fresse zu bekommen, wie es die derzeitige Parteichefin ausdrücken würde. Das Dilemma der SPD ist, dass sie stets beides gleichzeitig will: gesellschaftlich gestalten UND sozial rebellieren, ein bisschen zumindest. Das hat nie funktioniert. Die SPD ist so zerrissen wie ihre Führer. Andrea Nahles, Kevin Kühnert, Olaf Scholz, Ralf Stegner – sie wirken wie Politiker verschiedener Parteien.
Was kann die SPD retten? Jedenfalls nicht der Austritt aus der Großen Koalition. Nicht nur das Land befände sich dann in einer Krise, Neuwahlen würden den Status der SPD als Splitterpartei zementieren. Bezweifelt werden muss auch, ob sie in der Opposition „gesunden“könnte. Wahrscheinlich würde der Richtungsstreit weitergehen – zwischen Verantwortung (die sie weiter in elf Landesregierungen wahrnimmt) und der von Kühnert angestrebten Links-Opposition. Zu wünschen ist der SPD, dass sie sich ihrer alten Tugenden erinnert, die sie auf Parteitagen stets besingt: „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“, heißt es in der „Internationalen“. Wann schreitet man in wichtigen politischen Fragen endlich wieder Seit’ an Seit’? „Mit uns zieht die neue Zeit“– nur mit welchen Themen?