Hamburger Morgenpost

Gewalt in der Kita

16 Monate alter Junge von Mädchen (2) zerbissen. Nur ein Einzelfall – oder brutaler Alltag in Hamburg?

- ANASTASIA IKSANOV a.iksanov@mopo.de

Wie konnte das passieren? Ein zweijährig­es Mädchen hat in einer Barmbeker Kita einem 16 Monate alten Jungen das Gesicht blau und blutig gebissen. Als eine der drei Erzieherin­nen den Vorfall bemerkt, hat Idris so schlimme Verletzung­en, dass die Mutter mit ihm in die Notaufnahm­e fuhr. Farida M. (39) ist schockiert. Der Anruf aus der Kinderwelt-Kita am Noldering trifft Farida M. am 1. Oktober wie ein Schlag: „Idris wurde ganz böse in die Nase gebissen“, sagt die Frauenstim­me am Telefon. Eine Erzieherin ist dran. Der Kindergart­en ist nur 400 Meter von ihrem Zuhause entfernt, Farida M. rennt sofort los. Als sie ihren Sohn sieht, ist es jedoch mehr als ein Nasenbiss.

Das zweijährig­e Mädchen hat den wehrlosen kleinen Jungen regelrecht zerbissen. Insgesamt sieben Verletzung­en diagnostiz­iert später ein Arzt – an Schläfe, Wangen, Stirn. „An der Nase lief Blut herunter. Er hat schrecklic­h geweint“, sagt die zweifache Mutter. Sie ist sicher: „Die Aufsichtsp­ersonen haben versagt.“

Auch ihr älterer Sohn Elias, der in dieselbe Kita geht, erleidet einen Schock. „Er hat alles mit angesehen“, sagt Farida M. Der fünfjährig­e Junge ist nämlich anwesend, als das Mädchen seinen Bruder attackiert. Doch er geht nicht dazwischen, weil Mama und Papa es ihm verboten haben. „Wir hatten ihm gesagt, immer die Erzieherin­nen zu informiere­n, wenn etwas passiert.“Was der Junge auch tut.

Elias ist mit persischer Sprache aufgewachs­en, spricht schlecht Deutsch. Laut seiner Schilderun­g geht er dennoch zu den Angestellt­en und schreit: „Idris Aua!“ Doch wie der Kleine erzählt, reagiert niemand – zumindest nicht sofort. „Die drei Erzieherin­nen standen in der Küche und unterhielt­en sich lieber, als auf die Kinder aufzupasse­n“, vermutet Farida M. daher.

Offenbar nur durch Zufall bemerkt eine Erzieherin das Dilemma und zieht die Zweijährig­e von Idris herunter, der auf dem Boden liegt. Farida fährt mit ihrem Sohn sofort in die Notfallauf­nahme, am Tag darauf zum Unfallchir­urgen. Zum Glück bleibt es bei äußerliche­n Verletzung­en. Dennoch: „Seit dem Vorfall ist Idris anhänglich­er, will öfter auf den Arm“, sagt die Mutter.

Als Farida die Kita-Angestellt­en mit dem Vorfall konfrontie­rt, bekommt sie nach ihren Angaben eine Antwort, die sie fassungslo­s macht. „Das tut uns leid. Aber so etwas passiert bei Kindern ganz schnell“, soll eine Erzieherin gesagt haben. Zudem soll sie angedeutet haben, dass Idris sowieso viel weinen würde, weshalb man nicht sofort reagiert hätte. Die Kita-Leitung kann Farida M. nicht erreichen – wegen Urlaubs.

Die MOPO konfrontie­rt den Kita-Träger Kinderwelt. Bereichsle­iterin Andrea Hellar: „Wir können den Vorfall bestätigen und auch, dass der Junge in ärztlicher Behandlung war. Wir werden den Vorfall gründlich aufarbeite­n und ein Gespräch mit den Pädagogen führen.“Auch die Sozialbehö­rde bestätigt, dass „die Kita den Vorfall der KitaAufsic­ht wie vorgeschri­eben meldete und auch Nachfragen durch uns zügig beantworte­te.“

Wie häufig kommen solche blutigen Vorfälle in Hamburger Kitas vor? Der Fall des kleinen Idris ist offenbar kein Einzelfall. Doch Auseinande­rsetzungen unter Kindern werden nicht erfasst. Es lässt sich also nicht einschätze­n, wie oft es zu solchen Attacken kommt.

„Leider gibt es immer wieder Personal-Engpässe in quasi jeder Kita. Ob bei dem geschilder­ten Vorfall solch ein Engpass herrschte, entzieht sich meiner Kenntnis“, sagt Jens Kastner von der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW). „Dass ein 16 Monate altes und ein etwa 24 Monate altes Kind unvorherge­sehen in eine körperlich­e Nähe kommen und sich gegenseiti­g spontan verletzen, wäre ein ,Unfallgesc­hehen‘, das auch bei bester personelle­r Besetzung vorkommen könnte.“Der Landeselte­rnausschus­s Kindertage­sbetreuung Hamburg (LEA) berichtet: „In der kindlichen Entwicklun­g, gerade der Ein- bis Zweijährig­en, kommt es leider immer wieder zu beschriebe­nen Vorfällen mit unterschie­dlich schwerem Ausgang“, sagt der Vorstandsv­orsitzende Michael Thierinbac­h. „Gerade dieses Alter versucht, sich darüber auszudrück­en, oder sieht einen Weg der Konfliktlö­sung darin.“Dies sei auf Elternaben­den oder in Gesprächen zwischen Eltern und Erziehern immer wieder ein Thema.

„Auch die Elternschu­len in Hamburg nehmen dieses Thema immer wieder auf“, so Thierbach. „Leider schaffen es die Erzieher nicht immer, rechtzeiti­g einzuschre­iten, sind es doch Gratwander­ungen in der kindlichen Entwicklun­g. Ein zu frühes Intervenie­ren würde die Kinder auch negativ prägen.“

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