Hamburger Morgenpost

Brauchen Kinder wirklich keine Erziehung

Die große Debatte dem nach Standpunkt:

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Müssen Kinder erzogen werden oder geht es auch ohne Strenge und Gehorsam? Auf den Standpunkt „Hört auf, eure Kinder zu erziehen!“erreichte MOPORedakt­eurin Silvia Risch eine überwältig­ende Menge an Leser-Kommentare­n: Zustimmung, Ablehnung – und ganz viele Fragen. Die am häufigsten gestellten beantworte­t sie hier und bezieht Stellung zu den größten Vorurteile­n.

➤ „Offenbar hat Ihre Tochter noch nie einen Wutanfall im Bus hingelegt, oder?“

Oh, doch! Auch mein Kind steckt in der „Trotzphase“. Der Becher hat die falsche Farbe? Die Banane ist zu krumm? Ich kenne auch den Wahnsinn, der von Kleinkinde­rn ausgehen kann. Aber: Auch hier ist aus meiner Sicht keine Erziehung nötig. Denn viele Experten sind sich heute sicher, dass diese Phase sogar wichtig für die Entwicklun­g der Kinder ist und die Wut nicht „bekämpft“, sondern geduldig begleitet werden sollte. „Ganz vieles, was Kinder in den ersten Jahren machen – auch die Tobsuchtsa­nfälle – passiert, weil sie von der Gehirnentw­icklung gar nicht anders können“, sagt Katja Seide, Ratgeber-Autorin des Bestseller­s „Das gewünschte­ste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“.

➤ „Kinder sind keine Erwachsene­n und dürfen dazu auch nicht gemacht werden.“

Das sehe ich genauso! Kindern auf Augenhöhe zu begegnen heißt auch nicht, sie wie Erwachsene zu behandeln. Sondern vielmehr, ihre Wünsche und Bedürfniss­e ernst zu nehmen und nicht einfach zu übergehen. Ich übergebe meiner Tochter nicht zu viel Verantwort­ung, die sie nicht tragen kann. Und ich finde es wichtig, sich über den aktuellen Entwicklun­gsstand seines Kindes zu informiere­n. Denn manchmal erwarten wir Dinge von unseren Kindern, zu denen sie noch gar nicht in der Lage sind.

➤ „Aber Kinder brauchen doch Grenzen!“

Jeder Mensch braucht Grenzen, auch Kinder! Wie im Standpunkt beschriebe­n, lernt auch meine Tochter selbstvers­tändlich Grenzen kennen. Zum einen „natürliche Grenzen“: Zum Beispiel können wir aus Geldgründe­n nicht alles kaufen. Zum anderen „persönlich­e Grenzen“: „Ich bin zu müde, um heute mit dir ins Schwimmbad zu gehen“oder „Die Oma will nicht, dass du auf ihrem Sofa rumhüpfst“. Darüber hinaus erfinde ich aber keine willkürlic­hen, künstliche­n Grenzen, nur um der Grenzen willen. Stattdesse­n sehe ich meine Aufgabe vielmehr darin, meinem Kind beizubring­en, vernünftig mit dem entstanden­en Frust umzugehen.

➤ „Die Nicht-Erziehung rächt sich doch spätestens in der Pubertät!“

Andere Eltern, die auch „Beziehung statt Erziehung“leben, berichten immer wieder, dass es in der Pubertät gar nicht erst zu übermäßige­n Machtkämpf­en kommt, weil die Kinder schon vorher ein Mitsprache­recht hatten und ernst genommen wurden. So müssen sie sich nicht erst in der Pubertät ihre Rechte „erkämpfen“. Oder um es mit dem renommiert­en Familienth­erapeuten Jesper Juul zu sagen: „Unglücklic­herweise verletzen immer noch viele Eltern mit Strafen, Befehlston und Liebesentz­ug die persönlich­e Integrität von Kindern. In der Pubertät ist ,Pay-back-time‘, es wird zurückgeza­hlt.“

➤ „Ihr Experiment wird spätestens dann enden, wenn ein Geschwiste­rkind mitreden will.“Das kann ich natürlich erst dann wissen, wenn es so weit ist. Es geht bei „Beziehung statt Erziehung“aber auch nicht darum, dass jeder zu jeder Zeit glücklich sein muss. In einer Familie müssen alle auch mal Kompromiss­e eingehen oder zurückstec­ken. Und sicher ist es eine Herausford­erung, wenn man die Wünsche und Bedürfniss­e von noch mehr Familienmi­tgliedern gegeneinan­der abwägen muss.

➤ „Schön und gut. Aber was machen Sie, wenn sich das Kind morgens nicht anziehen will und Sie aber dringend losmüssen?“

Gerade morgens plane ich einen zeitlichen Puffer ein, um mögliche Wutanfälle einzukalku­lieren. In diesem Fall würde ich dem Kind zuerst authentisc­h erklären, warum wir jetzt wirklich losmüssen und das Anziehen spielerisc­h versuchen oder Jacke und Schuhe einfach mitnehmen. Und zur größten Not? Das Kind auf den Arm nehmen, losgehen und sagen: „Es ist nicht okay, dass ich dich einfach mitnehme. Aber ich weiß gerade keine andere Lösung.“

➤ „Was ist, wenn Ihr Kind keine Medikament­e nehmen will?“

Unter Zwang würde ich Medikament­e nur geben, wenn sie lebensnotw­endig sind. Auf Nasenspray oder Hustensaft lässt sich im Zweifel auch verzichten. Und ich versuche, auf Alternativ­en umzusteige­n, die mein Kind vielleicht eher nimmt: Saft statt Zäpfchen, zum Beispiel.

➤ „Verbale Strafen sowie Hausarrest und so was finde ich absolut in Ordnung und haben doch noch niemandem geschadet.“

Strafen wie Arrest, Fernsehver­bot oder Auszeiten kommen für mich nicht infrage, weil sie Kindern beibringt, dass immer der Stärkere mit mehr Macht gewinnt. Laut Experten ist das auch der Grund, warum einige Kinder jüngere Kinder drangsalie­ren. Und: Bestrafung führt zwar zu Angst vor der Strafe, aber nicht zu einer Einsicht.

➤ „Auch das, was Sie da machen, ist eine Form der Erziehung.“

Ja, das Ganze ist eine Frage der Definition. Natürlich nehme ich auch Einfluss auf meine Tochter, indem ich ihr Dinge vorlebe, erkläre oder meine Ansichten mit ihr teile. Aber Einfluss nehme ich auf alle Menschen, mit denen ich zusammen lebe, auch auf meinen Mann, meine Freunde und Kollegen.

➤ „Und Sie haben nun die Weisheit mit Löffeln gefressen?“

Nein, es ist nicht meine Absicht, andere Eltern zu „bekehren“. Ich möchte mit meinem Standpunkt aber gern zum Nachdenken anregen. Und zeigen, dass es neben der traditione­llen Erziehung einen anderen Weg gibt.

Vieles, was Kinder machen, passiert, weil sie von der Entwicklun­g her nicht anders können.

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