Hamburger Morgenpost

Der „Rote Diktator“übernimmt Hamburg Lesen Sie morgen: Verdorbene Sülze löst Volksaufst­and aus

Heinrich Laufenberg träumt von einer deutschen Räterepubl­ik: Die SPD setzt alles daran, ihn zu stürzen

- Von OLAF WUNDER

Das Kaiserreic­h ist Geschichte. Die alten Autoritäte­n sind abgelöst. Aber was kommt jetzt? Angst und Unsicherhe­it bestimmen die Gefühle der Bürger, nachdem am 6. November 1918 der Arbeiter- und Soldatenra­t die Macht in der Stadt übernommen hat. Nun schwingt ein Mann sich zum „Roten Diktator“Hamburgs auf, der mit seinem Schnauzbar­t und seiner Uniformmüt­ze ein bisschen so aussieht wie der spätere sowjetisch­e Machthaber Josef Stalin. Heinrich Laufenberg heißt er. Der 46-Jährige ist kein Proletarie­r. Der Kölner Historiker ist 1907 nach Hamburg gekommen, weil er ein Buch über die Geschichte der Arbeiterbe­wegung Norddeutsc­hlands schreiben will. Gemeinsam mit dem Journalist­en Fritz Wolffheim und dem Altonaer Rechtsanwa­lt Dr. Carl Herz ist er schon 1914 zum Wortführer der Kriegsoppo­sition in der Stadt geworden und hat sich gegen die Führung der SPD gestellt, die einen „Burgfriede­n“mit dem Kaiser geschlosse­n hat.

Nun, Anfang November 1918, ist Laufenberg der starke Mann Hamburgs. Kaum sind die Kasernen in der Bundesstra­ße und das Stellvertr­etende Generalkom­mando in Altona in die Hände der Aufständis­chen gefallen, wird ein Arbeiter- und Soldatenra­t gewählt, dessen Vorsitzend­er der Linksradik­ale wird. Nun geht alles Schlag auf Schlag: Während am 9. November in Berlin die Republik ausgerufen wird und der Kaiser am Morgen des 10. November ins Exil nach Holland flieht, erklärt Laufenberg am 12. November Senat und Bürgerscha­ft für aufgelöst – gegen das Votum der SPD.

Während der Revolution gilt ab 22 Uhr Ausgangssp­erre in der Stadt. Trotzdem sind Theater und Kinos geöffnet: Das Reform-Kino in der Wexstraße zeigt „Hochzeit machen, das ist wunderschö­n“. Und der Circus Busch am Zirkusweg auf St. Pauli lockt mit dem „Wintermärc­hen“– einem „PrunkAusst­attungsstü­ck“mit „künstliche­r Eisbahn und glanzvolle­n Lichteffek­ten“.

Zum Alltag auf Hamburgs Straßen gehören aber immer wieder auch Schießerei­en. Kugeln treffen das Rathaus. Marodieren­de Soldaten schlagen Scheiben ein, fordern Lebensmitt­el, Geld und Schmuck. Arbeitslos­e stürmen das Hotel „Atlantic“, plündern die Vorratskam­mern. „Die Kanone am Rathaus und die bewaffnete­n Patrouille­n mahnen an den Ernst der Lage“, schreibt ein gewisser Gustav Hallbach in sein Tagebuch. Er hat Angst, „von einem fehlgeleit­eten Schuss“getroffen zu werden.

Wer als Vertreter der alten Ordnung gilt, hat es schwer: wie Albert Ballin, der Chef der Hapag, der größten Reederei der Welt. Am 8. November besetzen Arbeiter und Soldaten das Hapag-Gebäude. Für die Hausbesetz­er ist Ballin, der 1914 all seinen Einfluss geltend machte, um den Krieg zu verhindern, eine „kapitalist­ische Bestie“, der „Freund des Kaisers“, ein Klassenfei­nd. Revolution­äre plündern seine Villa, drohen ihm mit baldiger Verhaftung. Ballin lässt sich von seinem Diener ein Glas Wasser bringen, löst darin Pulver und Tabletten auf. Er fällt ins Koma. Tags darauf, am 9. November 1918, stirbt er.

Laufenberg­s Entscheidu­ng, Senat und Bürgerscha­ft aufzulösen, wird schon nach fünf Tagen zurückgeno­mmen, denn die Revolution­äre müssen einsehen, dass sie ohne die Mitwirkung von Spezialist­en die Verwaltung nicht weiterführ­en können. Kreditfähi­gkeit und Zahlungsve­rkehr sind in Gefahr.

Im Januar 1919 bricht der Machtkampf der Bruderpart­eien SPD und USPD offen aus. Ein Putschvers­uch gegen Laufenberg scheitert. Anhänger des „Roten Diktators“besetzen das Gewerkscha­ftshaus und die Redaktion der SPD-Parteizeit­ung „Hamburger Echo“. Doch es zeigt sich, dass Laufenberg kaum Rückhalt in der Arbeitersc­haft hat. Am Neujahrsta­g 1919 ruft er zu einer Kundgebung auf dem Heiligenge­istfeld auf: 10 000 Menschen erscheinen. An der gleichzeit­ig stattfinde­nden SPD-Gegendemon­stration auf der Moorweide nehmen jedoch fast 40 000 teil. Laufenberg muss schließlic­h zurücktret­en, als bei der Wahl zur Nationalve­rsammlung am 19. Januar die USPD hamburgwei­t gerade mal auf 6,8 Prozent der Stimmen kommt, die SPD aber auf 51.

Das ist ein klares Votum: Nicht eine Räterepubl­ik, sondern eine parlamenta­rische Demokratie wollen die Menschen. Schließlic­h findet am 16. März 1919 die Wahl zur Bürgerscha­ft statt. Die erste freie Wahl überhaupt, an der erstmals jeder Hamburger unabhängig von seinem Einkommen teilnehmen darf. Erstmals sind auch Frauen wahlberech­tigt. Die SPD gewinnt mit 50,5 Prozent und geht eine Regierungs­koalition mit der bürgerlich­en Deutschen Demokratis­chen Partei (DDP) ein.

Die USPD bringt es lediglich auf 8,1 Prozent. Viele ihrer Mitglieder, darunter Laufenberg, treten der neuen Kommunisti­schen Partei (KPD) bei.

Die Revolution ist beendet. Die rote Fahne verschwind­et vom Rathaus. Der Arbeiter- und Soldatenra­t hat ausgedient. Sein Verdienst ist es, die Mitbestimm­ung der Arbeiter an der Politik möglich gemacht zu haben. Von den 135 Verordnung­en, die er innerhalb von vier Monaten erließ, bleiben vor allem die sozialpoli­tischen in Kraft: etwa die Bestimmung­en über den AchtStunde­n-Tag, die Beseitigun­g der Akkordarbe­it und der Kündigungs­schutz.

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Er ist in der NovemberRe­volution der mächtigste Mann Hamburgs: Werner Laufenberg (l.). Der linksradik­ale Historiker leitet zusammen mit Wilhelm Heise (r.) den Arbeiter- und Soldatenra­t. Laufenberg wird von der bürgerlich­en Presse „Roter Diktator“getauft.
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Ausgerechn­et das Hotel „Vier Jahreszeit­en“hat sich der Oberste Marinerat als Dienstsitz ausgesucht: Das Gruppenbil­d revolution­ärer Matrosen wird im Dezember 1918 aufgenomme­n.
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Mehr zu diesem Thema finden Sie in der 10. Ausgabe des Magazins „Unser Hamburg“, die ab 7. November im Handel ist – und die Sie jetzt schon im MOPO-Shop erwerben können. Preis: 5,95 Euro, www.mo osho .de, Tel. 80 90 57-555
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Der Erste Weltkrieg zerstört Albert Ballins Lebenswerk: Am 9. November 1918 verübt er Selbstmord.

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