Soll man Bettlern Geld geben?
Zahl der Wohnungslosen hat sich fast verdoppelt. Der Hamburg-Sprecher der Caritas gibt Tipps, wie man am besten mit Bedürf igen umgehen sollte
Das Leid anderer beschäftigt besonders in der Vorweihnachtszeit viele Menschen. Die Bettler auf Hamburgs Straßen lösen jedoch gemischte Gefühle aus. Von Mitleid über Verunsicherung bis hin zu Ablehnung. Wie sollte man bettelnden Menschen begegnen? Caritas-Sprecher Timo Spiewak (51) gibt Tipps für den Umgang mit Bettlern.
➤ Sollte ich bettelnden Menschen Geld geben?
Warum nicht? Auch auf die Gefahr hin, dass sie davon Alkohol oder andere Suchtmittel kaufen und nicht etwas zu essen, so wie ich es mir vorstelle. Menschen, die auf der Straße leben, haben häufig Suchtprobleme. Sie brauchen den Alkohol, um zu überleben. Ein kalter Entzug auf der Straße kann lebensbedrohlich sein. Wenn ich kein Geld geben möchte, kann ich stattdessen fragen, was der bettelnde Mensch brauchen könnte. Auch ein freundlicher Blick, ein Gruß oder ein paar Worte können Wertschätzung ausdrücken. ➤ Gibt es eine Empfehlung, wie viel ich geben sollte?
Papst Franziskus sagt, Almosen müssen wehtun. Die Frage ist: Was kann ich mir leisten und was mit meinem Gewissen vereinbaren? Meistens gebe ich so viel, dass es mir nicht wehtut. Fakt ist, die Menschen auf der Straße brauchen Hilfe. Ich darf mich daher fragen, ob ich nicht großherziger sein könnte in Anbetracht all dessen, wofür ich selbst auf sinnhafte wie sinnlose Weise Geld ausgebe. Bei einem bettelnden Menschen könnte ich in Menschlichkeit und Solidarität investieren. Keine schlechten Wertanlagen. ➤ Sind Sachspenden nicht besser als Geld?
Ein belegtes Brötchen oder ein Becher Kaffee mag aus meinem persönlichen Empfinden sinnvoller sein. Was aber, wenn es der zehnte Kaffee und das sechste Brötchen an diesem Tag sind? Auch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich der bettelnde Mensch dann nicht einmal mit einem „Danke“revanchiert, was mich wiederum vor den Kopf stößt. ➤ Bei uns muss doch keiner obdachlos sein, oder? Theoretisch trifft das zu. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Hamburg ist nur verpflichtet, Schlafnotstellen zur Verfügung zu stellen – keinen Wohnraum. Zwar
könnten sich auch obdachlose Menschen eine Wohnung suchen, da sie Anspruch auf soziale Leistungen haben. Aber unzählige Menschen, die auf der Straße leben, haben weder Ausweis noch Geburtsurkunde. Ohne diese geht bei den Ämtern häufig gar nichts. Viele Menschen schaffen es nicht, sich neue Papiere zu beschaffen.
➤ WArum ist mir die Begegnung mit Bettlern unAngenehm? Viele Menschen haben Angst, selbst einmal ein solches Schicksal zu erleben. Die Geschichten zeugen davon, wie schnell ein „Abstieg aus der Gesellschaft“erfolgen kann. Meist sind es mehrere Schicksalsschläge, die zusammenkommen. Manches Mal reicht ein Moment aus, um eine ganze Kettenreaktion in Gang zu setzen: Jobverlust, Überschuldung, Trennung, Räumungsklage. ➤ Stimmt es, dAss es immer mehr Bettelnde gibt? Obdachlosigkeit und Armut haben zugenommen. 2009 gab es eine Zählung in Hamburg, da waren es 1029 Obdachlose. Im März 2018 hat es eine erneute Zählung gegeben. Demnach sind mittlerweile 1910 Menschen obdachlos. Ein Grund ist, dass es seit 2014 keine Arbeitsbeschränkungen mehr für Menschen aus den südosteuropäischen EU-Ländern gibt. Aufgrund extremer Verarmung in diesen Ländern machen sich die Menschen auf den Weg, um in Deutschland Arbeit zu finden. Doch der Versuch, der Armut zu entkommen, scheitert oft.
➤ Ich fühle mich durch bettelnde Oenschen bel0stigt. WAs kAnn ich tun?
Ich muss mich nicht beschimpfen oder anpöbeln lassen. Habe ich das Gefühl, dass mir die Situation zu entgleiten droht, kann ich mich anderen Personen zuwenden und diese um Unterstützung bitten.
➤ Ist Betteln überhAupt erlAubt?
Das Betteln ist in Deutschland nicht verboten und das „stille Betteln“seit 1974 nicht mehr strafbar. „Aggressives“ Betteln kann allerdings in Deutschland als Nötigung eingestuft und geahndet werden. Werden falsche Lebensumstände wie Blindheit oder eine verlorene Geldbörse vorgetäuscht, gilt das als Betrug. Zudem können Kommunen bandenmäßiges oder organisiertes Betteln untersagen.
➤ Gibt es orgAnisierte BettlerbAnden?
Für organisierte Bettlerbanden aus Südosteuropa oder die sogenannte „Bettelmafia“gibt es in Deutschland genauso wenig polizeiliche Belege wie für die weit verbreitete Anschuldigung des „Sozialtourismus“. Es handelt sich um Einzelfälle. Menschen aus Südosteuropa betteln, weil sie in ihrer Heimat keine Arbeit finden. Ihre starke Familien- und Gruppensolidarität führt dazu, dass sie sich gemeinsam auf die Reise machen, gemeinsam wohnen und das Betteln gemeinsam organisieren. Die Gleichsetzung von „organisiert“mit „kriminell“ist nicht haltbar. Nicht helfen, weil man Angst hat, „Bettlerbanden“zu unterstützen? Es wird immer Menschen geben, die Argumente suchen, warum sie nicht zu helfen brauchen. Aber mal ehrlich: Sieht die bei Wind und Wetter auf dem Bahnhofsvorplatz sitzende Bettlerin osteuropäischen Einschlags wie eine Gewinnerin aus?
➤ L0sst sich Betteln nicht durch Verbote einschr0nken?
Das löst nicht im Ansatz das Problem. Platzverweise verlagern es bloß. Obdachlose tauchen nach kürzester Zeit an anderer Stelle wieder auf. Heute haben wir in unserer Gesellschaft kaum noch Platz für diejenigen, die wir aussortiert haben. Das Thema gehört sozialpolitisch in die Mitte der Gesellschaft, nicht an den Rand und schon gar nicht außerhalb.