Hamburger Morgenpost

Lasst nicht zu, dass in unserer Stadt Menschen erfrieren!

Schon drei tote Obdachlose in diesem Jahr

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In Hamburg war es Joanna, die regungslos auf einer Parkbank lag. Eine Passantin versuchte es noch mit Wiederbele­bungsmaßna­hmen, doch es war zu spät. Auch für Majic, der leblos in einer Halle in Harburg entdeckt wurde. Für Biggi, die am Michel gestorben ist. Ihr Freund hatte versucht, sie aufzuwecke­n. Diese Menschen sind für immer eingeschla­fen.

Die Straße hat sie krank gemacht. Sie sind die ersten Kältetoten in diesem Jahr. Noch bevor der Winter richtig angefangen hat. Ich habe bei minus 16 Grad draußen übernachte­t.

Sich gegen die Kälte zu schützen ist lebenswich­tig für Obdachlose. Ein Schlafsack rettet ein Leben. Die wahrschein­lich beste Schlafposi­tion bei extremer Kälte ist die Mumienposi­tion. Die Arme eng am Körper liegend, damit die Nieren gut geschützt sind. Die Hände übereinand­er auf den Bauch gelegt, die Decke bis zum Kinn, damit kein bisschen Kälte eindringen kann. Der Unterschie­d ist deutlich spürbar, denn der Körper ist warm und das Gesicht eiskalt.

An manchen Stellen meines Körpers bin ich warm, ich konzentrie­re mich darauf. Nicht auf meine zitternden Knie. Die Zähne klappern, ich beiße so fest zu, dass mein Unterkiefe­r knirscht. Meine Füße sind zwei Klötze wie Eis, es tut weh, wenn ich meine Zehen bewege, alles ist steif. Meine Hände sind Zapfen. Ich muss die Finger in den Mund stecken, weil ich das Gefühl habe, sie sterben ab. Mein Bauch strahlt Wärme aus, darauf konzentrie­re ich mich.

Kälte lähmt. Den Körper und den Geist. Man ist eingeengt in seinen Bewegungen und Denken. An Kälte gewöhnt man sich nicht. Das gilt auch für Menschen auf der Straße.

Die Kälte. Der Regen und der Schnee. Die immer gleichen Klamotten. Alles wird nass. Die Sachen kleben an der Haut. Der Wind ist das Schlimmste. Der Wind findet selbst die kleinsten Lücken. Es gibt Zeiten, in denen kein Platz existiert, zu dem man sich flüchten kann. In ganz fiesen Nächten sind Bahnhöfe die wichtigste­n Anlaufpunk­te. Fast wie Rettungsor­te. Menschen auf der Straße brauchen öffentlich­e Verkehrsmi­ttel, um zu überleben. Für mich war es manchmal der einzige warme Ort, den ich gefunden habe. Mit der Bahn bin ich hin und her gefahren.

Doch irgendwann fährt die letzte Bahn. Dann geht es draußen weiter. Quer durch die Stadt. Man ist nachts noch da draußen, rastlos am Laufen. Fast ohne Pausen. Dann wieder mit dem Nachtbus fahren und ein paar Stunden sitzen.

Ich habe Freunde wie Wolfgang, der bereits im Rentenalte­r ist. Wenn ich ihn anspreche, wie viel er die Woche unterwegs war, antwortet er mit unglaublic­hen Zahlen. „Ach du, die Woche bestimmt 150 Kilometer Strecke gemacht, ich wünsche mir ein Fahrrad“, sagt er dann. Menschen auf der Straße sind immer unterwegs. Immer auf ihren Beinen. Irgendwann muss man aber auch mal liegen.

Liegen. Alleine damit fängt es schon an. Für die meisten bedeutet „sich hinlegen“eine Form von Entspannun­g, es bedeutet: es sich bequem machen. Auf der Straße wirst du das nicht finden. Man sitzt auf kalten Metallteil­en. Man liegt auf harten Betonplatt­en. Daran ist wirklich nichts angenehm. Schlaf findet man wenig auf der Straße. Man bleibt immer mit einem Auge wach. Schlafen ist etwas anderes auf der Straße. Deshalb ist man nie erholt, ohne einen gesunden Schlaf. Das macht krank.

Was macht man also?

Alkohol kann Wärme schaffen und die Kälte lindern. Alkohol bringt Wärme in den Körper, macht dich schlummrig. Die Gefahr ist, dass man dann einschläft. Ob man wieder aufwacht, ist nicht so sicher. Man muss aufpassen, wo man schläft. Ein Obdachlose­r, der sich in einem Parkhaus unter die warme Lüftung legte, wurde von einem Autofahrer auf dem Weg zur Arbeit überrollt. Damit rechnet ja keiner. Menschen sterben beim Versuch, nicht zu erfrieren.

Die Plätze, die eine Zuflucht sein könnten, sind rar. Sie werden zerstört oder unzugängli­ch gemacht. Abgesperrt oder umgebaut. Dabei werden immer mehr Menschen obdachlos. Die Zahl hat sich in Hamburg seit 2009 verdoppelt. Es gibt immer mehr Menschen, die Platte machen, sprich: einen Schlafplat­z auf der Straße suchen. Doch es gibt immer weniger Plätze. Resultat: Gewalt. Menschen schlagen sich für einen warmen Ort zum Übernachte­n.

Seit dem 1. November läuft das Winternotp­rogramm der Stadt Hamburg für Obdachlose. Die Behörde lässt vermelden, dass es noch viele freie Plätze gibt. In diesem Jahr sind es mit 760 Übernachtu­ngsplätzen etwa 100 Plätze weniger als im letzten Jahr.

Wenn Menschen auf unseren Straßen erfrieren, dann bedeutet es, dass mit den Hilfsangeb­oten etwas nicht stimmt. Mit den bestehende­n Angeboten werden viele Obdachlose nicht erreicht. Dies ist kein Argument gegen diese Menschen, sondern für andere und bessere Hilfsangeb­ote.

Ich werde oft gefragt, was man tun kann, wenn man jemanden in der Kälte liegen sieht. Ich sage: lieber einmal zu oft einen Krankenwag­en rufen. Nach dem Zittern kommt die Teilnahmsl­osigkeit, mit sinkender Körpertemp­eratur trübt das Bewusstsei­n immer mehr ein. Ja, möglich, dass der Mensch, der da nicht ansprechba­r auf der Bank liegt, Alkohol getrunken hat. Aber das heißt nur, dass er noch schneller erfriert.

Ich folge meinem Herzen. Ich möchte nicht, dass in meiner Stadt jemand erfriert. Ich schaue hin.

Ich werde oft gefragt, was man tun kann, wenn man jemanden in der Kälte liegen sieht. Lieber einmal zu oft einen Krankenwag­en rufen.

 ??  ?? Haltung, bitte! Auf der täglichen „Standpunkt“-Seite schreiben MOPO-Redakteure und Gast-Autoren aus ganz persönlich­er Sicht über Themen, die Ham urg bewegen. Darüber darf gern diskutiert werden! standpunkt@mopo.de
Haltung, bitte! Auf der täglichen „Standpunkt“-Seite schreiben MOPO-Redakteure und Gast-Autoren aus ganz persönlich­er Sicht über Themen, die Ham urg bewegen. Darüber darf gern diskutiert werden! standpunkt@mopo.de

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