Eine Küche als Raumschiff
Neuer Gastro-Leuchtturm: Das „100/200“begeistert mit großer Kochkunst
Ein dunkler Eingang neben den Elbbrücken, eine Klingel, die Tür geht auf, ein Fahrstuhl wartet. Bereit für einen Ausflug ins Genuss-Universum? Dann ab in den zweiten Stock! Hier steht seit dem Sommer die Küche von Thomas Imbusch. Und das ist keine normale Küche: Das stählerne Ungetüm in der Mitte des ganz in Schwarz gehaltenen Restaurants wirkt eher wie die Kommandobrücke eines Raumschiffs.
Dass Imbusch (30), seit 2010 in Hamburg und einst Partner von Tim Mälzer, kein gewöhnliches Restaurant in den backsteinernen Brandshof (genau, der gehörte mal Rote-Flora-Investor Klausmartin Kretschmer) gepflanzt hat, war uns vorher klar. Und doch sind wir überrascht: Von der diskreten Begrüßung, dem persönlichen Empfang, der ausgesuchten Freundlichkeit, der Freude, mit der wir rumgeführt werden – und vor allem dem Geschmacksfeuerwerk, das uns noch im Stehen an der edelstählernen Arbeitsplatte vorgesetzt wird. Fünf kleine AmuseGueules, eines für jede Geschmacksrichtung.
Und die haben es in sich: Da explodiert ein süßes Tomate/Rote-Bete/Melone-Schaumplätzchen im Mund, eine Auster wird von Kimchi und Speck für die Geschmacksnerven bis zum Abgang konserviert – und wer hätte gedacht, dass Hühnerfüße und Tiefseealgen eine derart himmlische Brühe ergeben?
Das ist hohe Kunst hier, keine Frage. Die Köche lachen, warten gespannt auf die Reaktion des Gastes, freuen sich, wenn der sich freut – wer hier arbeitet, ist stolz drauf, das merkt man und das ist gut. Wohl deshalb schmeckt selbst das Brot mit der Joghurtbutter, das uns auf den mächtigen Holztisch gestellt wird, großartig.
Einige Prinzipien gibt es für den Gast aber zu beachten: 1. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Das ist ein Trend der gehobenen Hamburger Küche und sehr zu begrüßen, nimmt es dem Gast doch die Qual der Wahl – und die Küche kann sich voll und ganz auf eine Komposition konzentrieren.
2. Tiere werden von Kopf bis Fuß verspeist. Sehr sympathisch.
3. Reserviert und bezahlt wird im Voraus, das Menü kostet je nach Wochentag 95 bis 119 Euro. Wer nicht kommt, zahlt trotz-
dem. Bislang aber sei das nicht vorgekommen, sagt Imbusch.
4. Gebucht wird kein Tisch, sondern ein Platz im Küchen-Raumschiff. Kann also passieren, dass man nicht allein am Tisch sitzt.
5. „Der persönliche Kontakt ist uns sehr wichtig“, sagt Imbusch. Deshalb gibt es, anders als etwa im „The Table“oder im „Haebel“, die auch mit fixen Menüs und offenen Küchen beeindrucken, nicht zwei Gästeschichten pro Abend. Stattdessen kommen die maximal 40 Gäste um je 30 Minuten versetzt – so bekommt jeder maximale Aufmerksamkeit.
Unsere Aufmerksamkeit ist ganz auf das eigentliche Menü gerichtet. Das besteht aus sieben Gängen, startet mit einem Forellen-Bauch (mit einem Lack auf Aalbasis veredelt und per Gasflamme gebrannt), geht weiter mit roher Lauenburger Rinderkeule, ähnlich einem Tartar, und einem weiteren Stück Forelle, jetzt gebraten und mit Kohl und Kaviar serviert, wird unterbrochen von einer feinen Rinderrolle Bordelaiser Art, findet seinen Höhepunkt in einem Stück Entrecote mit extrem krosser Kruste und zergeht in einem süßlichwarmen, rumgetränkten Nachtisch.
Eine Wucht dazu: der Dessertwein aus der Weinbegleitung (ja, die kostet noch mal 61 Euro, aber es lohnt sich!) – der ist süß, sauer, kräftig, elegant und das alles gleichzeitig.
Nur eine Unsitte haben wir festgestellt: den Trend, dem Gast kein Salz mehr auf den Tisch zu stellen – auch nicht nach unserer Kritik, dass etwas Salz am Essen fehlte. Das wirkt doch etwas arrogant, schließlich mag der eine sehr viel mehr Salz als der andere – auch wenn Imbusch betont, dass das Ziel nun mal sei, ein perfektes Gericht zu servieren.
Am Ende, nach vierstündiger Schlemmerei und einer 300-Euro-Rechnung (billig ist es nicht), freuen wir uns, dass diese neue nordische Küche mit ihren regionalen Produkten und internationalen Einflüssen, kreativ komponiert und dabei bodenständig, mit Witz, aber ohne Chichi, in Hamburg immer mehr Köche zu Höchstleistungen treibt. Das „100/200“(100 für die Temperatur kochenden Wassers, 200 für die des Backofens) ist ein weiterer Gastro-Leuchtturm an der Elbe. Oder wie Imbusch sagt: „Für mich geht es im Leben um Essen und Trinken, ich brauche nichts anderes.“
100/200, Brandshofer Deich 68 (Rothenburgsort), Di-Sa 18-24 Uhr, www.100200.kitchen; E-Mail: mail@100200.kitchen