Hamburger Morgenpost

Darum haben die Gelbwesten recht!

Frankreich in der Hand der „Gilets jaunes“: Der Protest gegen eine Spritsteue­r wird zum Aufstand – und die Protestier­enden haben gute Gründe, meint unser Autor

-

„Macron démission!“– „Macron, tritt zurück!“– skandieren Protestler von Marseille bis Paris. Brennende Barrikaden, Plünderung­en und Straßenspe­rren im ganzen Land: Frankreich versinkt im Chaos – wieder einmal. Doch diesmal kommt die Initiative nicht aus den Hochhaussi­edlungen oder von den Universitä­ten: Die Gelbwesten stehen für das arme, ländliche Frankreich – und sie wollen nichts Geringeres als den Sturz der Regierung. Immer mehr Gruppen schließen sich ihnen an. Auch meine Sympathie haben sie.

Ein im Internet kursierend­es Video geht um die Welt: Etwa 150 Schüler knien mit erhobenen Armen vor einer Schule in Mantes-la-Jolie, einem Vorort von Paris – sie wurden festgenomm­en. Vor ihnen die berühmt-berüchtigt­en Polizeiein­heiten der CRS. Die Bilder sorgen für Entrüstung, so mancher fühlt sich an Erschießun­gsszenen erinnert. Und auch mich treffen sie hart: Im Plattenbau von Mantes-la-Jolie ist mein Vater geboren und aufgewachs­en. Unruhen sind in der Geschichte Frankreich­s keine Seltenheit, vielmehr gehören sie zur DNA der Grande Nation: Rousseau, Rotwein, Rage (Wut).

Doch diesmal ist es anders, Experten sprechen von den schwersten Unruhen seit der 68er-Bewegung, die in Frankreich ungleich gewalttäti­ger war als in Deutschlan­d. Doch trotz der beunruhige­nden Bilder aus dem Nachbarlan­d gibt es keinen Grund zu verzweifel­n. Denn: Die Gelbwesten haben recht! Die „Gilets jaunes“sind nicht der Auslöser des politische­n Erdbebens, das sich am Arc de Triomphe von seiner hässlichen Seite zeigt, sie sind das Ergebnis. Das Ergebnis einer Politik, die Klientelpo­litik für Großkonzer­ne macht und parallel Sozialabba­u betreibt. Dafür gibt’s nun die Quittung.

Die Deutschen denken ja immer, Frankreich sei ein Sozialstaa­ts-Paradies mit Frühverren­tung für alle. Doch die Wahrheit ist eine andere: Das Land ist ungleich stärker in Arme und Reiche gespalten als Deutschlan­d. In Paris herrscht eine Elite, die sich in eigenen Kindergärt­en, Schulen und Universitä­ten selbst reproduzie­rt und zum Leben der einfachen Leute keinen Bezug hat. In kaum einem Land Europas sind die Mieten so hoch, seit Jahren stagnieren die Löhne. Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel und vielleicht bald Kramp-Karrenbaue­r – Menschen aus einfachen und normalen Verhältnis­sen – hätten in Frankreich nie die Chance auf das höchste Amt im Staate.

Groß war daher die Euphorie, als Macrons Bewegung „En Marche“(„In Bewegung“) an den Start ging. Mit dem Polit-Muff brechen, neue Gesichter in die Parlamente bringen – das klang für viele Franzosen attraktiv. Die Warnung, Macron, selbst ein Kind der Elite, sei ein Präsident der

Reichen, verhallte. Das rächt sich jetzt. Vor allem die ländliche Bevölkerun­g fühlt sich abgehängt:

Mangelnde Infrastruk­tur, Chancen- und Arbeitslos­igkeit – Politik wird in Frankreich vor allem für die Zentren gemacht, für die mobile, gut ausgebilde­te Stadtbevöl­kerung. Die Vergessene­n aber begehren jetzt auf.

So lässt sich auch verstehen, warum eine Ökosteuer auf Diesel und Benzin zu einem Auf-

SolidarRen­te, Infrastruk­turerhalt auf dem Land, bezahlbare­r Wohnraum – her damit!

stand führte. Denn diese trifft keine Hipster auf Rennrädern, keine U-Bahn-Fahrer und Bosse mit Chauffeur, sondern vor allem Pendler und Geringverd­iener, kurz: die ohnehin schon abgehängte­n in der Peripherie.

Was als Blockade kleiner Leute begann, wird nun also zur Staatsaffä­re: Bauernverb­ände streiken, tausende Schulen werden blockiert, sogar die Polizeigew­erkschaft (VIGI) solidarisi­ert sich mit den Streikende­n und plant den Ausstand. Die Forderunge­n der Bewegung gehen mittlerwei­le sehr viel weiter als nur bis zum Tank des eigenen Autos: Was als Protest gegen die Spritsteue­r begann, ist nach sechs Wochen Debatte zu einem 40-Punkte-Plan geworden.

Und viele der Forderunge­n der „Gilets jaunes“ kann ich guten Gewissens unterschre­iben: Solidar-Rente von 1200 Euro, Infrastruk­turerhalt auf dem Land, höhere Abgaben für Großkonzer­ne. Her damit. Auch die Wiedereinf­ührung der Reichenste­uer und ein effektives Gesetz für bezahlbare­n Wohnraum – wer würde dazu schon Nein sagen? Die Kritik an den Gelbwesten, Rechtsextr­eme (allen voran Marine Le Pen) würden die Bewegung vereinnahm­en, ist für mich dagegen Augenwisch­erei.

Natürlich ringen Rechtsextr­eme (und auch Linksextre­me) um Einfluss bei den unorganisi­erten Gelbwesten. Das muss entlarvt, kritisiert und bekämpft werden. Doch damit die größte Gerechtigk­eitsbewegu­ng seit den 68er-Unruhen zu delegitimi­eren, wäre falsch. Vielmehr muss um den Kurs der Bewegung gerungen werden, damit die Rechtsextr­emen sich nicht an die Spitze stellen können. Will die Bewegung ihre Legitimitä­t behalten, kommt sie auch nicht um eine Distanzier­ung von der Gewalt herum. Nur so kann das – was wegen der gewalttäti­gen Ausschreit­ungen als Staatskris­e wahrgenomm­en wird – ein Schritt hin zu einem gerechtere­n Frankreich werden.

Heute wird sich Macron erstmals ausführlic­h äußern. Dann wird sich zeigen wie dialogbere­it der Knallhart-Politiker Macron ist. Dialog statt Polizei – das wäre eine richtige und angemessen­e Antwort auf die berechtigt­e Kritik der Protestler. Nur so kann das Frankreich meiner auf dem Land lebenden grand-mère (Großmutter) zur Ruhe kommen.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany