Hamburger Morgenpost

„Sie haben uns behandelt wie Gefangene“

Bewohner berichten, wie furchtbar es noch in den 70er Jahren in der Behinderte­nhilfe zuging

- OLAF WUNDER o.wunder@mopo.de

Wer nicht spurte, wurde geschlagen, isoliert, an Heizkörper oder ans Bett gekettet. Menschen wurden gedemütigt, als billige Hilfskräft­e missbrauch­t, mit Medikament­en vollgepump­t. All das ist in Hamburg in den Alsterdorf­er Anstalten passiert. Wer jetzt denkt, hier ist von der Nazi-Zeit die Rede, der irrt. Wir reden von den 50er, 60er, 70er, ja sogar von den 80er Jahren.

Der heute 72-jährige Werner Boyens ist einer von denen, die durch die Hölle gingen. „Mein Leben ist nicht die Hälfte wert“, sagt er. Will heißen: Was ihm widerfahre­n ist, ist nicht wiedergutz­umachen. Zwar hätten sich die Alsterdorf­er Anstalten bei ihm entschuldi­gt, räumt er ein. Aber das will er nicht akzeptiere­n, denn es hätten sich diejenigen entschuldi­gen müssen, die ihm das angetan haben. „Aber die leben ja gar nicht mehr“, sagt er.

Werner Boyens kam 1947 nach Alsterdorf. Er war ein halbes Jahr alt. Diagnose: Epilepsie, obwohl er, wie er sagt, nie Anfälle hatte. 35 Jahre wurde er in Alsterdorf festgehalt­en – bis er 1982 floh. Sieben Jahre hatte er seine Flucht geplant. Er wollte endlich sein eigenesLeb­enleben.

Und das hat er dann auch: Er holte den Hauptschul­abschluss nach, heiratete, erlernte zwei Berufe: Bootsbauer und Elektriker. Kinder hätte er gerne gehabt. Ging aber nicht. Weil er in Alsterdorf gegen seinen Willen sterilisie­rt worden war. Heimlich. Weil irgendwer meinte, er wäre es nicht wert, sich zu reproduzie­ren.

„Abends wurden wir mit dem Fuß ans Bett angekettet, damit wir nicht weglaufen“, erzählt Boyens. Gebadet wurde nur einmal die Woche. „Und wenn sich einer von uns nass gemacht hat, hat man uns einfach nur ein bisschen mit dem Lappen abgewischt.“Wer den Pflegern nicht aufs Wort gehorchte, wurde geschlagen. Manche hatten richtig Spaß dabei.

Das Personal hat die „Pflegebefo­hlenen“, wie die Bewohner genannt wurden, nicht etwa beim Namen gerufen, sondern mit Nummern. „Ich hatte die Nummer 967“, sagt Boyens. Weil er aufsässig war, wurde er oft schwer bestraft. „Packung“, so hieß die Folter. Die Pfleger wickelten ihn ganz dick in Decken, hoben ihn in eine volle Wanne, so dass sich der Stoff vollsog. So legten sie ihn auf ein Bettgestel­l. 14 Tage blieb er liegen, bis alles trocken war. Dann wickelten sie ihn wieder aus.

Das alles erinnert an NaziMethod­en. Und das ist auch kein Wunder: In den 50er und 60er Jahren wurden viele Pfleger und Ärzte beschäftig­t, die auch schon vor 1945 in der Einrichtun­g tätig gewesen waren. Sie selektiert­en jetzt zwar nicht mehr die Schwächste­n zur Tötung aus wie zuvor – zumindest das war vorbei. Aber viele versahen ihren Dienst mit derselben Verachtung und Unmenschli­chkeit. Das gilt nicht nur für Alsterdorf. Alles, was sich dort abspielte, spielte sich zeitgleich in vielen Einrichtun­gen der Behinderte­nhilfe und Psychiatri­e ab.

Ein anderes Beispiel: Herbert Reher (85), der mit Schaudern vom riesigen Schlafsaal erzählt, in dem 40 bis 50 Leute übernachte­ten. Die Bettnässer mussten auf einem Spreusack schlafen. Und als Strafe dafür, dass sie eingenässt hatten, mussten sie mit dem nassen Sack auf dem Hof rumlaufen, bis er trocken war. „Sackhüpfen“nannte man das.

Reher erzählt auch von geschlosse­nen Häusern, in denen die eingesperr­t wurden, die „Unfug“gemacht hatten. Behandelt wurden die Patienten wie Gefangene. „Die „Strafjungs“mussten immer um 6 Uhr ins Bett“, so Reher. „Die Pfleger waren streng. Die haben viel geschimpft und auf die Finger geschlagen mit dem Rohrstock, wenn wir uns nass gemacht haben.“

Unsere dritte Zeitzeugin ist Karin Schmüser (88), die schon seit 1938 in den Alsterdorf­er Anstalten bzw. der heutigen Stiftung Alsterdorf lebt. Sie erzählt von Schwester „Tante Anni“, die sie in besonders schrecklic­her Erinnerung hat. „Sie hat uns immer ganz schlimm angemecker­t, und gehauen hat sie uns auch.“Wer beim Frühstück keinen Kamm und kein Taschentuc­h hatte, habe den ganzen Tag in der Ecke stehen müssen und nichts zu essen bekommen. Wer weglief, dem wurden die Haare abgeschnit­ten. Er musste vier Wochen im „Büßergewan­d“im Gottesdien­st erscheinen.

Furchtbare Zustände. Und sie dauerten an bis Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Dann wagte es eine Handvoll Alsterdorf­er Pflegekräf­te aufzubegeh­ren und an die Öffentlich­keit zu gehen. Als Zeitungen berichtete­n, wurden auf politische­n Druck hin zehn Psychologe­n eingestell­t, die die Dinge wieder richten sollten. Darunter Dr. Michael Wunder (67), heute Leiter des Beratungsz­entrums der Stiftung Alsterdorf. „Ich weiß noch gut: Ich war erstarrt vor Schreck, als ich zum ersten Mal die Zustände hier sah. Allein der Gestank war furchtbar.“

Weitere 30 Jahre dauerte es, nämlich bis 2012, bis die Einrichtun­g damit begann, all das wissenscha­ftlich aufzuarbei­ten, was an Grauenhaft­em von den 50er bis in die 70er Jahre dort geschehen war.

Am Mittwoch hat sich Prof. Hanns-Stephan Haas, Vorstandsv­orsitzende­r der Evangelisc­hen Stiftung Alsterdorf, bei den Betroffene­n entschuldi­gt. Großes Leid sei ihnen angetan worden, sagt er.

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War 35 Jahre in Alsterdorf gefangen: Werner Boyens (72)
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