Lasst uns viele Lesekreise gründen!
Auch wenn die Käuferzahlen deutlich gesunken sind: Buchinhalte sind lebendiger denn je. Warum es uns guttut, Bücher zu lesen
Ich möchte vermuten, Sie konsumieren mehr Buchinhalte, als Ihnen eigentlich bewusst ist. Glauben Sie nicht? Haben Sie die Serien „Game of Thrones“oder „The Handmaid’s Tale“gesehen? Die „Der Hobbit“-Filme und, um auch einen deutschsprachigen Titel zu nennen, „Das Parfüm“? Sie ahnen sicher schon, worauf ich hinauswill: Alle diese Filme und Serien basieren auf Büchern. Buchinhalte sind lebendiger denn je, werden jedoch nicht mehr zwingend gelesen.
➤ 24 Stunden bleiben, mehr Medienangebote kommen Das zeigen die in der Buchbranche viel diskutierten Käuferzahlen, die der Börsenverein – der Verband der Buchbranche – erhoben hat. Demnach sind zwischen 2013 und 2017 insgesamt 6,4 Millionen Käufer dem Publikumsbuchmarkt abhandengekommen. Zum Vergleich: Hamburg hat rund 1,9 Millionen Einwohner. Die Buchbranche hat also mehr als drei Mal die Bewohner Hamburgs als Käufer verloren – und das innerhalb weniger Jahre. Gründe dafür gibt es viele, einer der wichtigsten mag das Überangebot an Medien sein. Ja, natürlich, ausgelöst vom Internet, aber seien Sie sicher: Dies wird kein „Das Internet ist böse“-Text. Denn das ist es nicht. Nur hat sich, anders als der Umfang des Medienangebots, die Dauer des Tages nicht verändert. Die ist bei 24 Stunden geblieben, völlig unabhängig davon, wie viele Videos bei YouTube, Bilder bei Instagram oder Serien bei Netflix oder auf den anderen Plattformen hochgeladen werden. Auch an mir selbst als Hamburger Verleger geht diese Entwicklung nicht spurlos vorbei, und das in zweierlei Hinsicht: Zwar mag ich kein Digital Native sein, habe aber so manche Abende doch mit „Modern Family“statt Yuval Harari verbracht. Aber nicht nur als Verleger, sondern auch als Privatperson bin ich überzeugt, dass Bücher weiterhin eine Zukunft haben – und es uns guttut, Bücher zu lesen.
➤ Vier Gründe, Bücher zu lesen Erstens ermöglichen es uns Romane oder Krimis, unsere eigene Vorstellungskraft anzuregen. Wir stellen uns die Figuren und Orte anders vor, als sie ein Schauspieler darstellen oder eine Kamera einfangen würde. Es ist unsere Aufgabe, aus den gedruckten Buchstaben Bilder in unserem Kopf entstehen zu lassen – ein kreativer Prozess, der fordernder sein mag als fertige Bewegtbildkunst, aber dadurch auch eine mentale Fitnessübung.
Zweitens schaffen (Sach-)Bücher eine Vertiefung, die audiovisuellen Formaten nur selten gelingt. Selten, weil es natürlich Formate wie Netflix’ „Making a Murderer“gibt, die durch ihre Dichte und Vielschichtigkeit im seriellen Format selbst anspruchsvollste Zuschauer abholen. Doch eine geschriebene Biografie kann mit so viel Liebe zum Detail, Wortwitz und Randbemerkungen aufwarten, wie es im Bewegtbild kaum möglich ist.
Drittens lassen sich gerade Printbücher nicht nur einfach lesen, sondern es lässt sich mit ihnen arbeiten. Als Verleger eines Wirtschaftsbuchverlags bin ich in der glücklichen Position, genau solche Titel machen zu können: Bücher, die Menschen zum Gründen befähigen („Das Richtige gründen“von Patrick Stähler) oder ihre Arbeitsräume der Gegenwart anzupassen („New Workspace Playbook“von Dark Horse In
novation). Der Leser soll in die Bücher schreiben, Sätze markieren und Seiten umknicken. Sie sollen sein Begleiter und Unterstützer werden, seine Gedankensammlung und Notizmöglichkeit.
Viertens bieten Printbücher etwas, was sie mit Zeitungen gemeinsam haben: ein Ende. Durch den Druck ist keine Aktualisierung mehr im selben Produkt möglich. Keine Push-Notification informiert über die nächste Entwicklung, kein blinkendes „Startseite aktualisieren“sagt, dass die Welt sich schon wieder weiterdreht. Bücher entschleunigen, weil sie Momentaufnahmen sind und diesen Moment ewig abbilden. Wenn im Herbst bei uns im Wachholtz Verlag das Buch „100 berühmte Hamburger“erscheint, ist das Buch aus der Perspektive des Jahres 2019 und des Autors Norbert Fischer entstanden. Ein anderer Autor in einem anderen Jahr hätte sehr wahrscheinlich eine andere Auswahl getroffen. Mit diesen abgeschlossenen Momentaufnahmen liefern wir in der Buchbranche den Menschen jedoch etwas, was heute kaum mehr möglich scheint: Zeit zum Innehalten.
➤ Ein Ort der Bücher (und ein fünfter Grund zum Lesen) Sich diese Stärken der Bücher bewusst zu machen, ist auch eine Aufgabe, die wir Verlage gemeinsam mit Buchhandlungen weiterentwickeln und sie an die Kunden kommunizieren müssen. Im vergangenen Jahr scheint das bereits funktioniert zu haben: So konnten 2018 rund 300 000 Buchkäufer zurückgewonnen werden, wie der Börsenverein kürzlich meldete – das ist mehr als die Anzahl der Einwohner im Bezirk Eimsbüttel.
Und wo wir gerade schon bei Eimsbüttel sind, kann ich Ihnen auch enthüllen, was ich als Eimsbüttler derzeit lese: „Manifest ohne Grenzen“ von Ai Weiwei, ein Buch aus unserer kursbuch.edition, das im Herbst erscheint. Und anders als bei den vielen Bewegtbild-Formaten, die teilweise nur auf einer einzigen Plattform verfügbar sind, gibt es dieses Buch in jeder Buchhandlung. Gehen Sie doch einmal rein und überprüfen, ob meine vier Gründe zum Bücherlesen dem Praxistest standhalten.
Und damit wäre ich bei einem fünften Grund für das Lesen: die Lust am Austausch über das Gelesene mit anderen, spontan während der Kaffeepause im Büro oder in der feierlichen Routine eines Lesekreises. Ich könnte mir jedenfalls gut vorstellen, dass wir Hamburger zukünftig nicht mehr nur über Filme und Serien reden, die auf Büchern basieren, sondern wieder mehr über die Lektüre selbst sprechen. Genügend Gründe dafürgibtesja.