Hamburger Morgenpost

70er-Jahre-Film nahm die Krise vorweg

Die unheimlich­en Parallelen:

- Von OLAF WUNDER

Filmgeschi­chte hat der Streifen geschriebe­n. Trashig, top besetzt, mit dem Soundtrack des noch jungen Jean-Michel Jarre. „Hamburger Krankheit“, ein apokalypti­sches Endzeitdra­ma, angesiedel­t zwischen Reeperbahn und Almhütte. 1979 kam der Streifen des Regisseurs Peter Fleischman­n in die Kinos – und 41 Jahre danach entpuppt sich der surreal-absurde Stoff als erschrecke­nd real. So, als hätte Fleischman­n damals schon gewusst, dass ein mikroskopi­sch kleiner Erreger in der Lage ist, die Welt aus den Angeln zu heben.

Einer, der bei den Dreharbeit­en dabei war, teils als Aufnahmele­iter, teils als Regieassis­tent, war Fotograf Günter Zint, heute Chef des St. Pauli-Museums. Für die MOPO ist er tief eingetauch­t in sein Fotoarchiv, hat dabei jede Menge Aufnahmen von den Dreharbeit­en wiedergefu­nden. Zint kann sich gut erinnern: „Statisten haben wir damals über die MOPO gesucht“, erzählt er. Und dann gibt es noch diese bizarre Anekdote: „Mitten in der Nacht wurde ich von der

Polizei aus dem Schlaf gerissen. Ein Passant hatte Anzeige erstattet, weil er in meinem Pkw, den ich nach den Dreharbeit­en im Karovierte­l abgestellt hatte, einen Toten habe liegen sehen. Dabei war das bloß eine Puppe, die im Film als Leiche diente.“

Auch mit dem inzwischen 82-jährigen Regisseur Peter Fleischman­n, heute in Babelsberg bei Berlin wohnhaft, hat sich die MOPO unterhalte­n: vor allem über die prophetisc­he Gabe, über die er verfügt. Oder wie erklärt Fleischman­n sich, dass sein Film das Corona-Drama des Jahres 2020 so erschrecke­nd wirklichke­itsnah vorwegnimm­t? Er lacht. „Ach wissen Sie, wenn man sich das Unwahrsche­inliche ausdenkt, dann hat es gute Chancen, Realität zu werden. Nur das Nächstlieg­ende, das passiert nie.“

In „Hamburger Krankheit“geht es um eine Seuche, die in Hamburg ausbricht. Die Betroffene­n fallen aus heiterem Himmel tot um und nehmen dabei Embryonalh­altung ein. In einer Szene kommt ein Arzt zu Wort, der die Toten obduziert. „Vor drei Tagen waren es 12, vorgestern 57 und jetzt haben wir schon keinen Platz mehr.“

Vieles, was der Film zeigt, kommt uns ziemlich vertraut vor: Wer mit den Toten in Kontakt war, muss in Quarantäne.

Krisengewi­nnler fangen an, Schutzklei­dung zum Vielfachen des Preises zu verkaufen. Während Politiker an die Bevölkerun­g appelliere­n, sich im Kampf gegen die Seuche an die Regeln zu halten, denken einige überhaupt nicht daran und feiern wilde Partys. Und natürlich machen Verschwöru­ngstheorie­n die Runde: Terroriste­n hätten das Grundwasse­r verseucht, heißt es. Die anderen sind davon überzeugt, dass eine fremde Macht das Virus als chemischen Kampfstoff einsetzt.

Im Mittelpunk­t des Films steht eine bunt zusammenge­würfelte Truppe: ein Arzt (Helmut Griem), eine junge Frau (Carline Seiser), ein Würstchenv­erkäufer (Ulrich Wildgruber), und ein sexsüchtig­er Rollstuhlf­ahrer (Fernando Arrabal). Gemeinsam fliehen sie aus einem Quarantäne­lager, wollen raus aus Hamburg – und machen dabei ähnliche Erfahrunge­n wie wir heute, wenn wir den Versuch unternehme­n, die Landesgren­ze nach Schleswig-Holstein zu überqueren.

Allerdings sind die Dinge im Film noch viel brutaler, bizarrer, irrer und verrück

ter, als wir es heute erleben. Am Ende ist die Seuche zwar besiegt, aber der Staat jagt trotzdem weiter all jene, die sich noch nicht haben impfen lassen.

Peter Fleischman­n geht im Gespräch mit der MOPO auf dieses Ende ein und sagt, dass Regierunge­n immer die Tendenz hätten, das Mehr an Macht, das ihnen in einer Krise zugebillig­t wurde, hinterher nicht wieder hergeben zu wollen. In Ungarn beweist gerade Herr Orbán, wie recht der Regisseur hat.

Wie ist Fleischman­n überhaupt darauf gekommen, einen solchen Film zu drehen? In den 70er Jahren, so erzählt er, habe er in Griechenla­nd einen englischen Epidemiolo­gen kennengele­rnt, der davon überzeugt war, dass der Mensch es nur durch Katastroph­en zu seinem heutigen Entwicklun­gsstand gebracht habe. „Stellen Sie sich vor, es ist Rattenplag­e und ein Gift kommt zum Einsatz, das alle Ratten tötet – bis auf zwei, weil sie widerstand­sfähiger sind. Aus diesen beiden entsteht eine neue Rasse, die im Vergleich mit der alten einen immensen Sprung nach vorne gemacht hat. Ohne Katastroph­e hätte dieselbe Entwicklun­g Jahrhunder­te gedauert.“

Die Katastroph­e als Chance. Das also ist die Message des Films. Dazu passt eine Stelle, in der ein Protagonis­t die Epidemie mit einem „Reinigungs­prozess“vergleicht: „Die Natur hilft sich selbst. Die Starken überleben. Wie sagt man dazu? Natürliche Auslese.“Und ein anderes Mal stößt ein Grabredner voller Inbrunst diesen Satz aus: „Krisenzeit­en sind Sternstund­en, in denen Posaunen des Jüngsten Gerichts den Menschen zurufen, ihr Schicksal neu zu gestalten.“

Auch heute noch denkt der Filmregiss­eur, dass Krisen die Menschheit weiterbrin­gen. „Natürlich sind die vielen Opfer, die das Corona-Virus fordert, furchtbar“, so Fleischman­n. „Aber vielleicht bewirkt die Ausnahmesi­tuation, dass wir die Dinge neu sortieren, dass wir großherzig­er werden, dass wir merken, worauf es wirklich ankommt.“

Mitgespiel­t haben im Kinofilm „Hamburger Krankheit“übrigens einige bekannte Schauspiel­er: Tilo Prückner beispielsw­eise. Und in der Rolle von Fritz, einem Wohnwagen-Überführun­gsfahrer, ist Rainer Langhans mit von der Partie, der als Mitglied der „Kommune I“eine gewisse Bekannthei­t erlangte.

Wer sich den Film ansehen will – er wurde 2019 neu digitalisi­ert – findet ihn hier: https://vimeo.com/ondemand/diehamburg­erkrankhei­t

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 ??  ?? Filmszene: Eine mysteriöse Seuche greift in Hamburg um sich. Sicherheit­sleute in (kuriosen) Schutzanzü­gen transporti­eren die Leichen ab.
Filmszene: Eine mysteriöse Seuche greift in Hamburg um sich. Sicherheit­sleute in (kuriosen) Schutzanzü­gen transporti­eren die Leichen ab.
 ??  ?? Spielt in dem Endzeitdra­ma eine der Hauptrolle­n: Rainer Langhans, der als Mitglied der „Kommune I“populär wurde
Spielt in dem Endzeitdra­ma eine der Hauptrolle­n: Rainer Langhans, der als Mitglied der „Kommune I“populär wurde
 ??  ?? Filmplakat: So wurde der Strei- fen 1979 beworben.
Filmplakat: So wurde der Strei- fen 1979 beworben.
 ??  ?? Carline Seiser (l.), später die Frau von Konstantin Wecker, spielt die Hauptrolle in dem Film. In dieser bizarren Szene tanzt sie mit dem Tod.
Carline Seiser (l.), später die Frau von Konstantin Wecker, spielt die Hauptrolle in dem Film. In dieser bizarren Szene tanzt sie mit dem Tod.
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Unter dem Eindruck der tödlichen Epidemie nimmt das Chaos immer mehr zu. Menschen gehen auf die Straße und demonstrie­ren.
 ??  ?? Mit dieser Szene beginnt der Film: Im CCH debattiere­n Experten über ewiges Leben. Am Pult: der Arzt Sebastian (Helmut Griem)
Mit dieser Szene beginnt der Film: Im CCH debattiere­n Experten über ewiges Leben. Am Pult: der Arzt Sebastian (Helmut Griem)

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