Hamburger Morgenpost

Von KATJA SUDING

Die FDP-Politikeri­n Suding kritisiert in einem Gastbeitra­g Kanzlerin Merkel: Debatte über Ende der Ausnahmere­gelungen sei nötig

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Um die Ausbreitun­g des neuartigen Corona-Virus zu verlangsam­en, wurden von den Regierunge­n in Bund und Ländern Maßnahmen angeordnet, die tief in unsere Grund- und Freiheitsr­echte eingreifen. Das war leider notwendig, um das Risiko, unser Gesundheit­ssystem zu überforder­n, so gering wie möglich zu halten.

Für mich sind dabei aber zwei Überlegung­en zentral: Sind die Maßnahmen geeignet und verhältnis­mäßig, um die Epidemie einzudämme­rn und Leben zu retten? Und: Wie stellen wir sicher, dass die freiheitse­inschränke­nden Maßnahmen nicht länger als nötig bestehen bleiben? In einer freiheitli­chen Gesellscha­ft darf und muss offen über diese Fragen debattiert werden. Ich halte es daher für einen Fehler, wenn die Kanzlerin und andere hochrangig­e Politiker die Debatte darüber im Keim ersticken wollen – aus Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.

Denn wir dürfen nicht übersehen, welche Härten diese Einschränk­ungen bedeuten. Für manche geht es „nur“darum, dass sie nicht mehr shoppen gehen und ihre Freunde nicht treffen können. Das kann man eine Zeit lang aushalten, auch wenn es sicher schwerfäll­t. Für viele geht es jedoch um viel mehr. Da sind die Älteren in den Altenund Pflegeheim­en, die einsam sind, weil sie niemand aus der Familie mehr besuchen darf. Diejenigen, die jahrelang gearbeitet haben, um sich und ihren Familien mit einem eigenen Unternehme­n oder Geschäft eine Existenz zu sichern, und die nun vor dem Nichts stehen. Die Gefahr von häuslicher Gewalt, unter der insbesonde­re, aber nicht nur Kinder und Frauen leiden, steigt. Kinder aus bildungsfe­rnen Familien fallen im Unterricht­sstoff weiter zurück als ihre Mitschüler, die beim Unterricht zu Hause viel Unterstütz­ung von ihren Familien bekommen. Die Abhängigke­it der Bildungsch­ancen vom Elternhaus steigt weiter. Das alles belastet mich sehr.

Natürlich kann man Menschenle­ben und persönlich­e und wirtschaft­liche Freiheit nicht gegeneinan­der aufwiegen, das wäre zynisch. Wenn aber die Wirtschaft zusammenbr­icht, brechen auch unser Gesundheit­s- und das Sozialsyst­em zusammen. Deshalb müssen wir beides zusammende­nken. Wir müssen die Gesundheit der Menschen schützen, dürfen aber nicht zulassen, dass die Wirtschaft kollabiert. Die Zeit des Shutdowns muss daher genutzt werden, um ausreichen­de Kapazitäte­n an Intensivbe­tten in den Krankenhäu­sern aufzubauen und genügend Schutzmask­en für pflegendes und medizinisc­hes Personal zu beschaffen. Es muss massenhaft getestet werden, sowohl auf das Virus als auch auf Antikörper. Die Entwicklun­g von datenschut­zkonformen Apps, die

Infektions­ketten sichtbar machen, schreitet voran. Inzwischen liegen mehr belastbare medizinisc­he Daten und wissenscha­ftliche Erkenntnis­se vor, die Grundlage für politische Entscheidu­ngen sind.

Sie helfen uns, die Kriterien zu definieren, unter denen Stück für Stück Teile des wirtschaft­lichen und gesellscha­ftlichen Lebens und unseres Bildungssy­stems wieder hochgefahr­en werden können. Es wird nicht sofort wieder alles so sein wie vor der Krise, und es mag Rückschläg­e geben, in denen Beschränku­ngen zeitweise wieder verschärft werden. Aber da, wo es verantwort­bar ist, wo gesundheit­liche Risiken beherrschb­ar sind, muss es ab jetzt Lockerunge­n geben. Wenn Supermärkt­e unter Einhaltung von Hygieneund Abstandsre­geln geöffnet sind, dann muss das auch wieder für den Einzelhand­el und die Gastronomi­e möglich sein. Das Gleiche gilt für die industriel­le und gewerblich­e Produktion. Schulen und Universitä­ten können wieder öffnen, zunächst möglicherw­eise zeitlich entzerrt und für ältere Jahrgänge, denen die Einhaltung von Abstandsre­gelungen zugetraut werden darf. Wenn Joggen im Freien erlaubt ist, muss das auch für Sportarten gelten, bei denen großer Abstand gewahrt wird, wie beispielsw­eise Tennis oder Badminton.

Die Corona-Krise verlangt von uns allen, Entwicklun­gen in der gesamten Gesellscha­ft zu betrachten. Wir müssen gesundheit­liche Risiken minimieren und dafür geeignete Maßnahmen beschließe­n und befolgen. Sie verlangt aber genauso, dass wir die sozialen, gesellscha­ftlichen und wirtschaft­lichen Schäden, die damit zwingend einhergehe­n, klar im Blick behalten und verantwort­lich gegensteue­rn.

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Hat seinen Lebensmut nicht verloren: Andy Eagle genoss das Konzert sichtlich.
Verfasste den Gastbeitra­g: Katja Suding (44) Hat seinen Lebensmut nicht verloren: Andy Eagle genoss das Konzert sichtlich.

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