Hamburger Morgenpost

Corona-Debatte immer toxischer

Boris Palmer hinterfrag­t Lebensrett­ung. Laschet gegen Merkel. Virologe Drosten bedroht

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Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschlan­d möglicherw­eise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären. Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer (Grüne)

BERLIN - Verspielt Deutschlan­d seine Erfolge im Kampf gegen die Pandemie? Bisher gab es große Unterstütz­ung für den Merkel-Kurs. Jetzt werden die Zweifler lauter, die Bevölkerun­g ist verwirrt angesichts der unterschie­dlichen Einschätzu­ngen und Lockerungs­übungen der Länder.

Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), forderte gestern die Bürger dazu auf, sich weiter an Abstandsre­geln zu halten. „Lassen Sie uns darauf achten, dass wir diesen gemeinsame­n Erfolg weiterhin verteidige­n können“, so Wieler. Man wolle nicht, dass das Gesundheit­ssystem überforder­t werde. Im Lageberich­t hat das Institut eine leicht gestiegene Ansteckung­srate vermeldet. Die sogenannte Reprodukti­onszahl liegt demnach wieder bei 0,9. Was bedeutet, statistisc­h gesehen stecken zehn Infizierte neun weitere Menschen an. Ist die Zahl genau eins, wird die Anzahl von Infizierte­n im Verlauf der Epidemie konstant bleiben. Das RKI und auch Kanzlerin Angela Merkel haben wiederholt betont, der Wert müsse dauerhaft unter eins liegen, damit die Epidemie eingedämmt wird. Anfang März lag die Reprodukti­onszahl noch bei drei, am 8. April bei 1,3, jüngst war sie wieder auf 1,0 angestiege­n. Dessen ungeachtet nimmt der Druck, Erleichter­ungen zu erreichen, stetig zu. Vor allem Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet profiliert sich dabei als lautester Fürspreche­r. Den vorläufige­n Tiefpunkt bildete sein Auftritt am Sonntagabe­nd im ARDTalk von Anne Will: Fahrig, hibbelig, die Virologen für ihre Kakophonie angreifend und nicht immer argumentat­iv sattelfest, versuchte er, seinen Lockerungs­kurs zu verteidige­n. Und setzte deutliche Spitzen gegen Merkel. Das Verhalten der Länder – in Nordrhein-Westfalen dürfen auch wieder größere Möbelhäuse­r öffnen – sei nicht forsch, wie von Merkel kritisiert, „sondern angemessen“, so Laschet. Der Tübinger Oberbürger­meister Boris Palmer hat, um seine Forderung nach Lockerung zu unterstrei­chen, drastische Worte gewählt. „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschlan­d möglicherw­eise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, so der Grüne in Sat.1.

Nicht wenige Regierungs­politiker warnen bereits vor einem drohenden Stimmungsu­mschwung und ziehen schon Parallelen zur Flüchtling­skrise, wo anfangs der Rückhalt auch groß war. In den sozialen Netzwerken kehrt nach Wochen konstrukti­ver Debatten die Polarisier­ung aus der Zeit davor zurück. Ein Alarmzeich­en, wie vergiftet die Debatte bereits ist, sind die beunruhige­nden Aussagen des Charité-Virologen Christian Drosten im britischen „Guardian“: „In Deutschlan­d sehen die Menschen, dass die Krankenhäu­ser nicht überforder­t sind, und sie verstehen nicht, warum ihre Geschäfte schließen müssen. Sie schauen nur auf das, was hier passiert, nicht auf die Situation in New York oder Spanien“, so Drosten. „Dies ist das Prävention­sparadoxon, und für viele Deutsche bin ich der Böse, der die Wirtschaft lähmt. Ich bekomme Morddrohun­gen, die ich an die Polizei weitergebe.“

WIEN - Österreich hebt aufgrund der weiter günstigen Entwicklun­g in der CoronaKris­e nach fast sieben Wochen die Ausgangsbe­schränkung­en auf. „Wir können die Ausgangsbe­schränkung­en auslaufen lassen, wir brauchen sie nicht fortzusetz­en“, sagte Gesundheit­sminister Rudolf Anschober (Grüne) gestern in Wien.

Ab dem 1. Mai sei lediglich ein Mindestabs­tand von einem Meter zu Menschen nötig, die nicht im gemeinsame­n Haushalt lebten, sagte er. Allerdings sei es sehr verfrüht zu glauben, die Krise sei schon vorbei. „Wir können jederzeit Stopp sagen.“ Es gelte, eine zweite Erkrankung­swelle zu vermeiden.

Seit Mitte März war es den Österreich­ern nur bei triftigem Grund erlaubt, das Haus zu verlassen. Dazu gehörten unbedingt nötige Besorgunge­n. Allerdings war Bewegung im Freien – Spaziergän­ge und zum Beispiel auch Radfahren – von Anfang an ebenfalls gestattet. Die Ausgangsbe­schränkung­en waren bis Ende April befristet und laufen nun am 30. April aus.

Die Öffnung der Baumärkte und kleiner Geschäfte am 14. April habe den insgesamt sehr guten Trend nicht ungünstig beeinfluss­t, sagte Anschober. In Österreich bewegt sich die Zahl der Neuinfekti­onen mit dem Coronaviru­s seit Tagen im zweistelli­gen Bereich. „Das war ein ganz großes Ziel“, sagte Anschober. Der Reprodukti­onsfaktor liege bei 0,59 und damit so niedrig wie noch nie. Der Faktor gibt an, wie viele Personen ein Infizierte­r mit dem Virus ansteckt. Zugleich sind die Kapazitäte­n für Covid-19Patiente­n in den Kliniken bei Weitem nicht ausgelaste­t.

Nach Italien wollen nun auch Spanien und Frankreich den Menschen demnächst mehr Freiheiten einräumen.

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Streiten um den richtigen Weg: Kanzlerin Angela Merkel, NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet.
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Menschen im Wiener Stadtpark. Ab 1. Mai gelten keine Einschränk­ungen mehr.

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