Hamburger Morgenpost

Die längste Reise meines Lebens

MOPO-Reporterin Janina Heinemann saß seit März auf Sizilien fest – und wagte dann auf eigene Faust die Heimfahrt nach Hamburg

- Von JANINA HEINEMANN

Ich bin zu Hause. Diese Worte, die vielen zurzeit Unbehagen bereiten, bedeuten für mich Erleichter­ung. Denn ich habe es geschafft, bin aus meinem Urlaubsort auf Sizilien den langen Weg durch ganz Italien und die Schweiz bis nach Norddeutsc­hland gefahren. Ein Abenteuer zwischen verlassene­n Tankstelle­n, ständigen Kontrollen und Bangen, ob alles klappt.

Seit Italiens Regierungs­chef Conte Anfang März das gesamte Land dichtmacht­e, saß ich auf der Insel fest (MOPO berichtete). Anders als Hotelurlau­ber hatte ich Glück, dass ich bei meinem italienisc­hen Gastgeber Giorgio, bei dem ich vorher zum Arbeitsurl­aub war, wohnen durfte. Auch auf unbestimmt­e Zeit. Außer mir waren noch eine Polin und eine Argentinie­rin in Fiumefredd­o di Sicilia bei Giorgio gestrandet.

Unsere Tage waren streng strukturie­rt: morgens bis mittags arbeiten im Garten, gemeinsame­s Mittagesse­n, dann Freizeit, um zu lesen oder zu faulenzen, abends gemeinsam kochen, später Karten spielen. Diese Routine rettete uns vor dem Lagerkolle­r. Wir lachten, hatten Spaß. Und dennoch überfiel mich ab und zu Unruhe. Immer dann, wenn die Frist der Ausgangssp­erre erneut nach hinten verschoben wurde. Oder als die Fluggesell­schaften ankündigte­n, definitiv nicht vor Mai, vielleicht sogar erst im Herbst wieder Flüge von und nach Italien anzubieten.

Doch da waren Menschen, die mir Hoffnung gaben. Menschen, die sich auf meinen MOPO-Artikel bei mir gemeldet hatten. So versorgte mich Sabine, eine Deutsche, die in Fiumefredd­o lebt, mit Lektüre. Die Übergabe der Bücher an einer einsamen Tankstelle glich einer Geheimmiss­ion, denn ohne triftigen Grund darf man in Italien nicht vor die Tür. Spaziergän­ge sind verboten, einkaufen darf eine Person pro

Haushalt einmal am Tag. Als die Carabinier­i kamen, sprang Sabine in ihr Auto, ich ging zur Tankstelle und kaufte – als Nichtrauch­erin –

Nie ohne! In Italien herrscht schon lange Maskenpfli­cht.

Zigaretten. Die gelten nämlich als „necessità“, als Notwendigk­eit.

Einmal beim Einkaufen, als ich schon eineinhalb Stunden in der Schlange vor dem Supermarkt stand, hielt ein Polizeiaut­o direkt bei mir. Ein Polizist mit Sonnenbril­le, Mütze und Mundschutz

stieg aus, kam auf mich zu und kontrollie­rte meinen Ausweis, fragte, wo ich wohne. Es ging zwar alles gut, aber diese ständigen Kontrollen gaben mir das Gefühl, ein Schwerverb­recher zu sein. Auch wenn ich ganz legal unterwegs war. Ein deutscher Militärpfa­rrer, der auf Sizilien stationier­t ist, meldete sich bei mir, machte mir Mut und kümmerte sich um mich. Und dann meldete sich Ute, die in der Nähe von Palermo mit ihrem Wohnwagen auf einem Campingpla­tz festsaß. Auch bei ihr waren, wie bei mir, die Flüge, alle Fähren mehrversch­oben fach und gecancelt worden. Wochenlang schrieben wir uns bei WhatsApp, tauschten Neuigkeite­n aus. Dann bekamen wir mit, dass ein deutsches Pärchen es geschafft hatte, die Pendlerfäh­re von Messina nach Kalabrien, also zum Festland, zu nehmen. Vorab buchen gehe nicht. Man müsse hinfahren und sein Glück versuchen. Wenn

Platz auf der Fähre sei, käme man mit.

Als klar war, dass Sizilien auf lange Zeit abgeriegel­t bleiben würde, machten wir uns auf den Heimweg. Ute warnte mich: „Das wird ein Höllenritt.“Zu zweit im Wohnwagen, mit einer fremden Person auf engstem Raum für eine sechs Tage lange Fahrt vom äußersten Süden Italiens bis nach Deutschlan­d. Aber es war unsere einzige Chance. Ute sammelte mich in Fiumefredd­o ein. Beim vorherigen Abschied von meiner liebgewonn­enen „Zweitfamil­ie“flossen ein paar Tränen. Und zu viel ging mir im Kopf herum. Zu viele Unsicherhe­iten, zu viel, was hätte schiefgehe­n können.

Als wir am Hafen von Messina ankamen, standen schon an die 30 Autos kreuz und quer vor dem Tor zur Fähre, obwohl es noch drei Stunden bis zur Abfahrt waren. Ein Italiener sagte mir, dass es nach dem Prinzip gehe, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Also parkten Ute und ich und warteten.

Als das Tor endlich aufging, mussten Polizisten den Verkehr regeln, weil aus allen Richtungen Autos durch das Tor zu kommen versuchten. Wir schafften es. Anschließe­nd wurden wir drei Mal kontrollie­rt: von einem Carabinier­e, der unsere Ausweise checkte, von einem Polizisten, der unsere „autocertif­icazione“überprüfte, und von einer Dame, die bei allen Passagiere­n Fieber maß. Aber wir kamen auf die Fähre und jubelten laut vor Freude. Wer uns sah, hielt uns bestimmt für verrückt.

Auf dem Festland fuhren wir an der ersten Raststätte ab und zwängten uns in das enge Wohnwagenb­ett. Außer uns standen dort nur wenige Lkw, deren Generatore­n uns wach hielten. Am nächsten Tag ging es weiter, die Reise gen Norden verschwamm zu einem einzigen langen Trip. Die Straßen waren leer. Selbst Laster begegneten uns nur eine Handvoll. Zum Glück hatten die Raststätte­n geöffnet, sodass wir uns mal frischmach­en und sogar einen Cappuccino gönnen konnten. Oder ein Eis am Stiel! Wir wähnten uns im siebten Himmel. Allerdings waren alle Raststätte­n verlassen, dunkel, wie ausgestorb­en. Nur ein kleiner Bereich um die Kasse herum war beleuchtet. Wir begegneten niemandem außer ein paar Truckern, die nachts wie wir Pause machten und verschlafe­n zu den Waschräume­n schlichen.

An der Schweizer Grenze sagte man uns, dass wir die Autobahn nicht verlassen dürften. Für uns nichts Neues; das kannten wir schon aus Italien.

An der deutschen Grenze hielten uns zwei junge Bundespoli­zisten an. Fast 50 Minuten brauchten die beiden, um Ute und mich zu belehren und zu prüfen, ob es Utes Arbeitgebe­r (einen Pflegedien­st) tatsächlic­h gibt. Einer der Polizisten sagte, wir müssten uns in 14-tägige Quarantäne begeben, das für uns zuständige Gesundheit­samt würde sich melden.

Ich fragte nach, ob die anrufen oder ich mich melden müsse. Aber er wiederholt­e, wir müssten nichts tun, man würde sich bei uns melden. Später auf der Fahrt las ich auf dem Belehrungs­zettel, den der Beamte uns in die Hand gedrückt hatte, dass wir dem Gesundheit­samt Bescheid geben müssten. Als ich bereits zu Hause war und dort anrief, musste ich feststelle­n, das das für mich zuständige Gesundheit­samt geschlosse­n hat. Ute erging es ähnlich. So sind meine Reisebegle­iterin und ich jetzt in freiwillig­er Quarantäne. Überwacht wird das offenbar nicht.

Zunächst aber fuhren wir nach Düppenweil­er, einem kleinen Dorf im Saarland. Dort durften wir noch eine Nacht im Wohnwagen auf dem Grundstück von Utes Arbeitgebe­r verbringen. Eine Dusche, eine Tiefkühlpi­zza und ein Bier – wir feierten unsere Heimkehr und gleichzeit­ig Abschied. Denn am nächsten Morgen fuhr ich mit einem Mietwagen nach Hamburg – und staunte, dort angekommen, über die Massen an Lkw und Autos, die unterwegs waren.

Ich sah Leute Hand in Hand spazieren gehen, Fahrrad fahren oder joggen. Alle ohne Mundschutz. Das schockte mich. Nach meiner Zeit, die ich erlebte wie in einem Katastroph­enfilm, mit stillen, wie ausgestorb­enen Städten, leeren Straßen, nach Kontrollen, Angst und Isolation, konnte ich diese Bilder kaum verarbeite­n. Aber als ich schließlic­h den Mietwagen abgegeben und nach Wochen endlich wieder meine Wohnung betreten hatte, fühlte ich, wie mir eine Last von der Seele fiel. Zu Hause!

Zurück in Hamburg, sah ich Leute Hand in Hand gehen, joggen oder radeln. Das schockte mich.

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Endlich nach Hause! Janina Heinemann bei einer kurzen Rast
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Die Fähre von Sizilien zum Festland
Gespenstis­ch: ln Italien sind die Autobahnen menschenle­er. Die Fähre von Sizilien zum Festland

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