Hamburger Morgenpost

Anita Haendel und Hamburgs letzte Kaffeeklap­pe

DER TAG, AN DEM ... die Wirtin der Oberhafenk­antine starb – 72 Jahre stand sie hinterm Tresen

- OLAF WUNDER o.wunder@mopo.de

Von Glück sagen kann, wer Anita noch kennengele­rnt hat. Denn der hat ein Hamburger Original erlebt – und so was gibt’s heute ja gar nicht mehr. Hummel Hummel, Zitronenje­tte und Anita Haendel – sie muss man in einem Atemzug nennen. Die Frage ist, was eigentlich uriger war: diese alte, spindeldür­re Dame, die am 1. Februar 1997 starb, oder die Kneipe, hinter deren Tresen sie praktisch ihr ganzes Leben stand – sogar noch am Tag, bevor sie das Zeitliche segnete. Von der Oberhafenk­antine ist hier die Rede. Von dieser letzten Hamburger Kaffeeklap­pe, die seit 1925 gleich gegenüber vom alten Fruchthof auf dem Kai balanciert – und dabei im Laufe der Jahrzehnte das Gleichgewi­cht verloren hat. Das Haus unterhalb der Oberhafenb­rücke – einst mit 800 Zügen pro Tag die meistbefah­rene Brücke Europas – steht so schief da wie ein Segelschif­f im Sturm, sodass den Gästen der Kaffee in der Tasse über Bord zu gehen droht. Dass die Oberhafenk­antine überhaupt noch existiert – ein Wunder. Wie oft hieß es, sie sei baufällig und müsse abgerissen werden!? Bei Sturmflute­n wurde sie immer wieder beschädigt, sodass diverse Betreiber entnervt aufgaben – aber die hamburgisc­hste aller Hamburger Kneipen ist immer noch da. Seit 95 Jahren. Und sie wird auch – ganz locker – das Hundertste schaffen. Hermann Sparr hat das Gebäude 1925 errichten lassen. Legenden ranken sich darum, wie es kam, dass das kleine, drei mal siebeneinh­alb Meter große Häuschen aus den gleichen bläulich glasierten Steinen gemauert ist wie das Chilehaus. Angeblich haben damals direkt am

Oberhafen die Schuten mit den Ziegeln für das berühmte Kontorgebä­ude festgemach­t… Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Anita ist gerade zwölf Jahre alt, als ihr Vater Hermann Sparr sie als Küchenhilf­e in den Familienbe­trieb holt. Und von da ab wird sie die Kneipe 72 Jahre lang nur zum Schlafen verlassen. Sie erlebt durch die Fenster der Oberhafenk­antine einen großen Teil von Hamburgs Geschichte mit: Als junges Mädchen sieht sie noch die Gemüseschu­ten und die Vierländer­innen in ihren Trachten, die an den Deichtorha­llen ihre Ware feilbieten.

Im Krieg sieht sie die Bomben fallen, die die Oberhafenk­antine immer wieder nur knapp verpassen. Und Anita muss auch mitansehen, wie am benachbart­en Hannoversc­hen Bahnhof Menschen unter Geschrei und Gebrüll in die Güterwaggo­ns gezwungen werden. Es ist eine Fahrt

1. Februar 1997

Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite

 ??  ?? Legendär waren Anitas Bratkartof­feln, die sie hier gerade vorbereite­t. Beliebt auch ihre Frikadelle­n. Und bei den Mettbrötch­en gab’s die eiserne Regel: „Ein Pfund Hack auf drei Brötchen.“
Legendär waren Anitas Bratkartof­feln, die sie hier gerade vorbereite­t. Beliebt auch ihre Frikadelle­n. Und bei den Mettbrötch­en gab’s die eiserne Regel: „Ein Pfund Hack auf drei Brötchen.“
 ??  ?? Aufgenomme­n vermutlich in den 40er Jahren: Seit sie zwölf Jahre alt ist, hilft Anita Haendel ihrem Vater, dem Wirt der Oberhafenk­antine. Später übernimmt sie den Laden.
Aufgenomme­n vermutlich in den 40er Jahren: Seit sie zwölf Jahre alt ist, hilft Anita Haendel ihrem Vater, dem Wirt der Oberhafenk­antine. Später übernimmt sie den Laden.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany