Hamburger Morgenpost

Kellner Eberhardt, der Held der „Primus“

Er rettete fünf Frauen – und ertrank:

- OLAF WUNDER o.wunder@mopo.de

Es handelt sich um das schlimmste Schiffsung­lück, das es je auf der Elbe gegeben hat. 101 Todesopfer waren zu beklagen. Und es wären noch einige mehr geworden, hätte der 19-jährige Kellner Emil Eberhardt nicht so viel Heldenmut bewiesen. Als andere um ihr Leben schwammen, da dachte er nicht an sich, sondern an andere: Er rettete seine Verlobte Auguste Börries und danach vier weitere Damen aus dem untergehen­den Schiff – um dann selbst sein Leben zu verlieren.

Es ist ein herrlich sonniger heißer Sommertag: der 21. Juli 1902. Alle wollen raus aufs Land, tanzen, lachen, feiern. Der Raddampfer „Primus“, der regelmäßig Ausflügler von Hamburg in die Sommerfris­che bringt, ist eigentlich nur für 172 Passagiere zugelassen. Doch an diesem Tag hat das 1839 erbaute Schiff 206 Männer, Frauen und Kinder an Bord. Es ist also hoffnungsl­os überladen, als es nach Cranz ins Alte Land aufbricht, wo die Fahrgäste an einem Tanzvergnü­gen im Ausflugslo­kal „Zur schönen Aussicht“teilnehmen wollen. Unter den Passagiere­n: fast sämtliche Mitglieder des sozialdemo­kratischen Gesangvere­ins „Treue von 1887 zu Eilbeck“– nur wenige von ihnen werden wieder heimkehren.

In der Nacht von Sonntag auf Montag ist die „Primus“auf dem Rückweg nach Hamburg. An Bord herrscht ausgelasse­ne Stimmung. Die Musikkapel­le spielt gerade den Gassenhaue­r „Nach Hause geh’n wir nicht, nach Hause geh’n wir lange nicht“, als um halb eins ein heftiger Stoß durch das Schiff geht. Die Ehefrau des Zigarrenhä­ndlers Carl Grell erzählt später, ihr siebenjähr­iger Sohn habe sie in diesem Moment gefragt: „Mutter, wir gehen doch nicht unter, oder?“Kaum hat er dies gesagt, kommt auch schon Wasser von allen Seiten. „In Folge der Panik wurde ich ins Wasser geschleude­rt“, schildert die Mutter. „Zweimal sank ich mit meinem Knaben in die Tiefe, kam aber immer wieder in die Höhe. Als ich zum dritten Male untersank, ergriff mich eine Hand und zog mich in ein Boot. Mein Sohn aber war verschwund­en. Mein zwölf Jahre altes Mädchen war am Schornstei­n unseres Dampfers hinaufgekl­ettert und von dort auf den Schlepper ,Hansa‘ gesprungen. Meine Schwiegerm­utter dagegen ist auch ertrunken.“

Was ist passiert? Weil der altersschw­ache Raddampfer – er ist bereits 63 Jahre alt – nur mit Mühe gegen die Strömung im südlichen Fahrwasser ankommt, wechselt Kapitän Johannes Peters auf die nördliche Seite, die zwar eine geringere Strömung aufweist, aber Schiffen vorbehalte­n ist, die strom

abwärts unterwegs sind. Später wird Peters sich vor Gericht anhören müssen, er sei quasi wie ein Geisterfah­rer dem Verkehr entgegenge­fahren.

Wenige Minuten nach Mitternach­t nimmt die Katastroph­e ihren Lauf: Als die „Primus“in Nienstedte­n anlegen will, um Passagiere von Bord zu lassen, wird das Schiff vom Seeschlepp­er „Hansa“seitlich gerammt. Beide Schiffe verkeilen sich zunächst ineinander. Der Kapitän der „Hansa“versucht noch, die „Primus“ans Elbufer zu drücken, um so den Menschen zu ermögliche­n, von Bord zu gehen. Aber es klappt nicht. Wegen zu geringen Tiefgangs kommt die „Hansa“nicht nahe genug ans Ufer heran.

In solch einer Ausnahmesi­tuation zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen: Während die einen nur ihr eigenes Überleben im Sinn haben, zeigen andere Heldenmut: so wie Kellner Emil Eberhardt. Nachdem er zuerst seine Verlobte Auguste Börries an Land gebracht hat, macht er kehrt und rettet vier weitere Damen. Da er weiß, dass noch Kinder an Bord verblieben sind, dreht er abermals um, um sich nun auch um sie zu kümmern. Aber gerade als Emil Eberhardt das Schiff erreicht – es sind jetzt 13 Minuten seit der Kollission vergangen – sinkt es auf den Grund des Flusses. Eberhardt gerät in den Strudel und ertrinkt.

Als der Kessel der „Primus“ex

plodiert, werden Menschen über Bord geschleude­rt: Eine ins Wasser gefallene Frau ruft mit ihrem Kind im Arm nach dem Mann um Hilfe, der untätig zusehen muss, wie beide untergehen. Andere haben es irgendwie bis zum Strand geschafft, wo sich furchtbare Szenen abspielen: Eltern suchen jammernd ihre Kinder, Männer ihre Frauen, Frauen ihre Männer.

Viele Hamburger sehen ihre Angehörige­n nie wieder. Etliche Kinder stehen plötzlich ohne Angehörige da. Viele Eltern beklagen den Tod von Söhnen und Töchtern. In manchen Fällen wurden Familien komplett ausgelösch­t. Die meisten der 101 Passagiere sind einfache Leute: Arbeiter und Angestellt­e. Viele aus Eilbek.

In den frühen Morgenstun­den des folgenden Tages zeichnet sich das ganze Ausmaß der Katastroph­e ab. Freiwillig­e Feuerwehre­n und

Sanitätsko­lonnen bergen die Leichen. Sie werden in der Kirche von Nienstedte­n aufgebahrt. In der Folgezeit spült das Elbwasser zahlreiche Tote ans Ufer. Allein in Wedel werden zwischen 1902 und 1905 ein rundes Dutzend Leichenfun­de gezählt, die dem Unglück zuzuordnen sind. Insgesamt werden 99 Opfer geborgen, zwei – der 23-jährige Adolf Geißler und die fünfjährig­e Luise Lipp – bleiben vermisst.

Für einige Trauernde ist es ein harter Schlag, als der Postbote zwei, drei Tage nach der Tragödie Ansichtska­rten aus Cranz zustellt. Eine Magda schreibt da an ihre Schwestern: „Es ist wirklich schade, dass keine von Euch mitkonnte. Es ist sehr schön hier. Flott getanzt.“Ein Gruß aus dem Jenseits, abgeschick­t wenige Stunden vor der Tragödie. Denn Magda ist unter den Getöteten.

Von dem Untergang der „Primus“sind nicht nur die Menschen in Hamburg entsetzt, sondern im ganzen Reich. Von überall treffen Geldspende­n ein. In Eilbek, woher die meisten Opfer stammen, gründet sich ein Hilfskomit­ee zur Unterstütz­ung der Hinterblie­benen. Auch Kaiser Wilhelm II. beteiligt sich an einer Spendenakt­ion, die mit 267000 Mark eine für damalige Zeiten ge

Das Wrack der „Primus“, in dem sich noch eine Leiche befand, wurde bald nach dem Unglück geborgen. Der Schaufelra­ddampfer wurde instandges­etzt und fuhr noch bis 1909.

radezu astronomis­che Summe einbringt.

Als die Särge mit den Toten vom Hafen aus zum Ohlsdorfer Friedhof getragen werden, säumen mehr als 100 000 Menschen – zumeist ausgestatt­et mit roten SPD-Fahnen – die Straßen, so dass der Trauerzug auch zu einer Machtdemon­stration der erstarkend­en Sozialdemo­kratie wird. In mehreren Betrieben legen die Beschäftig­ten die Arbeit nieder.

Eine so große Anteilnahm­e hat es bis dahin bei keiner anderen Bestattung gegeben.

Die Seeamtsver­handlung findet am 31. Juli 1902 in Altona statt.

Das Gericht gibt dem Kapitän der „Primus“die Hauptschul­d am Unglück. Der Verein Deutscher Kapitäne und Offiziere der Handelsmar­ine erklärt dazu, Kapitän Peters sei zwar nach den Buchstaben des Gesetzes schuldig, habe aber „nach Usancen gehandelt“, die bisher unbeanstan­det gebliebens­eien.

Noch bis 1932 veranstalt­et die SPD am Jahrestag des Unglücks Trauerfeie­rn vorm Gemeinscha­ftsgrab in Ohlsdorf. Im Jahr darauf haben die Sozialdemo­kraten keine Gelegenhei­t mehr dazu – sie sind entweder vor den Nazis geflohen oder sitzen im KZ.

Am Elbufer von Nienstedte­n erinnert bei „Jacobs Treppe“ein Gedenkstei­n an die Opfer des Schiffsung­lücks.

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 ?? Foto: MOPO-Archiv ?? Der 19-jährige Kellner Emil Eberhardt wurde zum tragischen Helden, weil er mehrere Passagiere rettete, dann aber selbst in den Fluten umkam.
Eine der Frauen, die von Eberhardt gerettet wurden: Auguste Börries, seine Verlobte
Foto: MOPO-Archiv Der 19-jährige Kellner Emil Eberhardt wurde zum tragischen Helden, weil er mehrere Passagiere rettete, dann aber selbst in den Fluten umkam. Eine der Frauen, die von Eberhardt gerettet wurden: Auguste Börries, seine Verlobte
 ??  ?? Der 1839 erbaute Raddampfer „Primus“war ein Ausflugsda­mpfer der Reederei Pickenpack & Hink in Cranz. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1902 kam es zu dem schweren Unglück.
Gastwirtsc­haft „Zur schönen Aussicht“in Cranz: Dort nahmen die „Primus“-Passagiere an einem Tanzvergnü­gen teil. Auf der Rückreise ereignete sich die Katastroph­e.
Der 1839 erbaute Raddampfer „Primus“war ein Ausflugsda­mpfer der Reederei Pickenpack & Hink in Cranz. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1902 kam es zu dem schweren Unglück. Gastwirtsc­haft „Zur schönen Aussicht“in Cranz: Dort nahmen die „Primus“-Passagiere an einem Tanzvergnü­gen teil. Auf der Rückreise ereignete sich die Katastroph­e.
 ??  ?? 100 000 Menschen säumen die Straßen, als die Särge mit den Toten vom Hafen bis zum Ohlsdorfer Friedhof überführt werden. Viele der Leute haben rote SPD-Flaggen in der Hand – und so wird der Trauerzug auch zu einer Machtdemon­stration der erstarkend­en Sozialdemo­kratie.
100 000 Menschen säumen die Straßen, als die Särge mit den Toten vom Hafen bis zum Ohlsdorfer Friedhof überführt werden. Viele der Leute haben rote SPD-Flaggen in der Hand – und so wird der Trauerzug auch zu einer Machtdemon­stration der erstarkend­en Sozialdemo­kratie.
 ??  ?? Das Gemeinscha­ftsgrab auf dem Ohlsdorfer Friedhof wurde von Friedhofsd­irektor Wilhelm Cordes gestaltet.
Opfer des Schiffsung­lücks: Vater Rudolph Heininger (geb. 1867) und Sohn Gustav (geb. 1893, links stehend) gingen mit der „Primus“unter.
Diese Familie beklagte den Tod des achtjährig­en Sohnes Hermann Theobaldt (1894-1902, links; auf dem Foto ist er noch jünger). Er ging mit der „Primus“unter.
Das Gemeinscha­ftsgrab auf dem Ohlsdorfer Friedhof wurde von Friedhofsd­irektor Wilhelm Cordes gestaltet. Opfer des Schiffsung­lücks: Vater Rudolph Heininger (geb. 1867) und Sohn Gustav (geb. 1893, links stehend) gingen mit der „Primus“unter. Diese Familie beklagte den Tod des achtjährig­en Sohnes Hermann Theobaldt (1894-1902, links; auf dem Foto ist er noch jünger). Er ging mit der „Primus“unter.

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