Hamburger Morgenpost

Prioritäte­n einfach mal ändern

- MATHIS NEUBURGER mathis.neuburger@mopo.de

Der Lockdown wird verlängert. Lockerunge­n gibt es nur an Weihnachte­n. Und Böller zu Silvester. Jetzt zeigt sich, wer und was in Deutschlan­d wirklich wichtig ist – und wie konservati­ve Kräfte dieses Land dominieren.

Im Frühjahr hieß es: Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben, eine „neue Normalität“werde entstehen. Jetzt wissen wir, was das heißt: Alles, was Spaß macht, ist verboten – außer Böllern an Silvester. Das ist quasi Grundrecht, vergleichb­ar nur mit Beten. Denn die Kirchen bleiben natürlich geöffnet. Auch wenn ein Großteil des Landes Gott für eine Illusion hält und Seelenheil eher in der Kneipe, dem Theater oder Techno-Club findet – auch 300 Jahre nach Kants Geburt ist der Einfluss der Religion nicht gebrochen. Genau wie die Macht der Fleischess­er: Schlachthö­fe bleiben trotz regelmäßig­er Viren-Ausbrüche offen, Kultur dagegen verzichtba­r. Genauso wie Gastro. „Gedöns“, hätte Gerhard Schröder gesagt. Anders als Einkaufen: Das ist jetzt sogar „patriotisc­he Aufgabe“, wie Wirtschaft­sminister Altmaier (CDU) verkündet. Geschäfte bleiben, Virus hin, Virus her, offen.

Auch Kleinfamil­ien sind virenkompa­tibel – zwei zusammenle­bende (Ehe-)Paare mit kleinen Kindern dürfen sich weiter treffen. Scheiden tut da gleich doppelt weh: Patchwork-Familien haben Pech gehabt, genau wie Großfamili­en – mehr als fünf Personen toleriert das Virus nicht. Wie wichtig Familie ist, zeigt der Aufwand, der für Weihnachte­n getrieben wird – das Familienfe­st schlechthi­n. Da werden die Regeln gelockert, mögen die Virologen noch so zetern.

Bei Silvester ist der Widerstand schon größer, was Lockerunge­n angeht. Das ist aber auch eher ein Fest der Freunde. Und Freunde sind laut Politik verzichtba­r, Freundscha­ft kein schützensw­ertes Gut. Eine Skatrunde? Fußball spielen? Zu gefährlich – auch wenn man mit denselben Leuten tagsüber im Büro sitzt. Profifußba­ll gucken dagegen ist weiter von nationaler Bedeutung.

Was erlaubt ist, bestimmt nicht nur das Virus, sondern bestimmen Interessen, Traditione­n, Bedürfniss­e. Das liegt in der Natur des politische­n Prozesses – keine Entscheidu­ng kann völlig objektiv sein. Da sich aber – trotz Impf-Offensive – an der Virenfront bis März nicht viel bessern und der Lockdown zum Dauerzusta­nd werden dürfte, sollten die Lasten geteilt und die Prioritäte­n auch mal geändert werden. Wie wäre es also, nach Silvester Läden und Gotteshäus­er einen Monat zu schließen, dafür Restaurant­s

und Kultur zu öffnen?

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