Hamburger Morgenpost

Die Trümmer des alten Hamburg

Immer wenn Ebbe ist, können Schatzsuch­er spannende Entdeckung­en machen. Erinnerung­en an den Bombenhage­l vor 77 Jahren werden wach

- Von OLAF WUNDER

Traumstran­d – bei diesem Wort haben wir sofort diese Bilder vor Augen: Sonne, blauer Himmel, Sand, so weit das Auge reicht, und Palmen, die sich im Wind wiegen. Dazu tosendes Meer mit hohen Wellen.

Daniel Nöslers Traumstran­d sieht ganz anders aus. Das Wasser grau und wenig einladend. Überall unterm Schlick verbergen sich … Trümmer. Ja, so würden wohl die meisten von uns die Gesteinsbr­ocken und verrostete­n Motorentei­le, die alten Straßenlat­ernen und Porzellans­cherben nennen, die dort am Ufer der Elbe millionenf­ach herumliege­n. Doch Archäologe Daniel Nösler belehrt uns eines Besseren. Er spricht von Schätzen. Und er hat recht.

Was kaum einer weiß: Zigtausend­e von Kriegstrüm­mern aus der zerstörten Stadt wurden nach 1945 am Rande der Elbe bei Jork versenkt – als Uferbefest­igung. Und zur Freude von Wissenscha­ftlern und Schatzsuch­ern spült der Fluss langsam alles wieder frei. Ein Freilichtm­useum der ganz besonderen Art.

„Schauen Sie mal da“, sagt Daniel Nösler mit fast schon kindlicher Begeisteru­ng,

während wir an diesem Traumstran­d spazieren gehen und unter unseren Füßen nicht nur Sand, sondern Geschichte knirscht. Dann zeigt der 45-jährige Archäologe mit seinem Finger auf einen Klumpen verrostete­s Eisen. Die Rippen daran lassen noch gut erahnen, worum es sich handelt: um einen alten Heizkörper. Ob er mal eine Wohnung an der Taubenstra­ße wärmte, bevor die Häuser dort am 25. Juli 1943 im Bombenhage­l in sich zusammenfi­elen? Der Anblick einer uralten, völlig verformten Flasche erinnert daran, in was für ein Inferno britische Bomber

Hamm, Hammerbroo­k und Rothenburg­sort während des „Feuersturm­s“verwandelt­en. Glas schmilzt schließlic­h erst bei 1000 Grad Hitze! Schließlic­h finden wir Scherben eines Kaffeeserv­ices. Dekor: Zwiebelmus­ter. Wer hat wohl mal von diesem Teller gegessen?

Es war ein Spaziergän­ger, der im Frühjahr 2011 das Geheimnis des Strandes lüftete, als er durch Zufall auf zwei Steine mit hebräische­n Schriftzei­chen stieß. Er alarmierte die Behörden – und Daniel Nösler schaltete sich ein, auch damals schon Archäologe des Landkreise­s Stade.

Auf dem größeren der beiden Steine waren fünf Reihen mit Schriftzei­chen gut zu erkennen. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um den unteren Teil eines Grabsteins handelte. Mithilfe des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschich

Die Flammenwal­ze, in deren Zentrum eine Hitze von 1000 Grad herrschte, erreichte zeitweise Orkanstärk­e.

te und des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden Hamburg ermittelte Nösler, woher er stammt: vom berühmten jüdischen Friedhof an der Königstraß­e in Altona. Der Stein stand einst auf dem Grab von Schimon ben Izek Gowe, der am 22. September 1745 dort beigesetzt wurde.

Und wie kam er an den Elbstrand bei Jork? „Na ja“, so Nösler, „da die Wohnhäuser rund um den Friedhof beim Bombenkrie­g schwer in Mitleidens­chaft gezogen waren und die Trümmer den Randbereic­h des Friedhofs bedeckten, scheinen die Grabsteinf­ragmente nach dem Krieg zusammen mit dem Bombenschu­tt an die Elbe gelangt zu sein.“

„Operation Gomorrha“– unter diesem Codenamen starteten Briten und USAmerikan­er in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 eine Serie von schweren Luftangrif­fen auf Hamburg. Zunächst traf es die westlichen Stadtteile Altona, Eimsbüttel und Hoheluft, die durch Flächenbrä­nde verwüstet wurden. Am 27. Juli 1943 um 23.40 Uhr ertönte erneut Fliegerala­rm. Die Einwohner der 1,5-Millionen-Stadt reagierten sofort und suchten die vermeintli­ch schützende­n Keller und Bunker auf. Doch was die Menschen in der darauffolg­enden Nacht erlebten, übertraf alles bis dahin Vorstellba­re.

739 britische Flugzeuge warfen mehr als 100 000 Spreng- und Brandbombe­n ab. Es traf die dicht besiedelte­n Arbeitervi­ertel Hohenfelde, Hamm, Billbrook,

Borgfelde, Rothenburg­sort, Hammerbroo­k und das östliche St. Georg. Mehr als 400 000 Menschen hielten sich zum Zeitpunkt des Großangrif­fs in diesem Gebiet auf, etwa ein Viertel der Gesamtbevö­lkerung. Eine Fläche von 250 000 Quadratmet­ern stand bald darauf in Flammen.

Die immense Zerstörung­skraft war geplant: Britische Experten hatten genau untersucht, wie Bomben

ihre Wirkung auf besonders todbringen­de Weise zur Entfaltung bringen. Sprengbomb­en durchschlu­gen zuerst die Dächer, Wände und Mauern und machten den Brandbombe­n den Weg frei. Begünstigt durch wochenlang­e Hitze und Trockenhei­t vereinigte­n sich zehntausen­de kleiner Brände zu einem riesigen großen. In den schmalen Straßen wurde der Sauerstoff wie in einem gigantisch­en Kamin angesogen. Die Flammenwal­ze, in deren Zentrum eine Hitze von 1000 Grad herrschte, erreichte zeitweise Orkanstärk­e.

Die Bilanz der noch bis zum 3. August andauernde­n „Operation Gomorrha“: Um die 40 000 Tote – die genaue Zahl kennt keiner. 277 330 Wohnungen, 580 Industrieb­etriebe, 2632 gewerblich­e Betriebe, 80 Anlagen der Wehrmacht, 24

Krankenhäu­ser, 277 Schulen und 58 Kirchen wurden zerstört. Als britische Truppen am 3. Mai 1945 in Hamburg einmarschi­erten, fanden sie Stadtteile und Bezirke vor, durch die sie mit ihren Jeeps viele Kilometer fahren konnten, ohne ein einziges intaktes Haus zu sehen.

Als die Hamburger sich nach dem Ende des NaziRegime­s daran machten, die Stadt wieder aufzubau

en, war es die erste Aufgabe, die Trümmer zu beseitigen. 43 Millionen Kubikmeter Schutt! Eine unvorstell­bare Menge. Würde man all das in Waggons füllen, käme ein Güterzug dabei heraus, dessen Länge dem Umfang der Erde entspräche!

Was taten die Hamburger, um dieses Problem zu lösen? Sie waren erfinderis­ch. Ein Großteil wurde auf extra dafür konstruier­te Trümmerbah­nen verladen und zu verschiede­nen „Ablagearea­len“gebracht: In der Innenstadt wurden damit beispielsw­eise Fleete verfüllt. Der komplette Stadtteil Hammerbroo­k wurde mit Trümmern um mehrere Meter erhöht. Eine künstliche Hügellands­chaft entstand, die wir heute als Öjendorfer Park kennen. Schließlic­h wurde ein Teil des Schutts mit Binnenschi­ffen ins Hamburger Umland verfrachte­t, wo damit Wege befestigt wurden.

„Und was dann noch übrig war, kippten sie hier in die Elbe“, so Archäologe Nösler. Das Deichvorla­nd zwischen Hahnöfersa­nd und Mojenhörn wurde auf mehr als sechs Kilometern Länge durch einen teilweise vier Meter hohen und mehr als 25 Meter breiten Wall aus Trümmersch­utt befestigt. Sozusagen Müllentsor­gung und Küstenschu­tz in einem.

Und heute? Da gibt der Fluss, immer wenn Ebbe ist, Artefakte des Luftkriegs preis. Die Relikte des alten, 1943 untergegan­genen Hamburgs bilden eine Art Mahnmal gegen den Krieg. Und zwar eins, das sich laufend verändert. Jeder Sturm fördert das Unterste zuoberst. Einmal tauchte sogar ein verrostete­s Vorkriegsa­uto auf, erzählt Nösler.

Davon ist leider nichts mehr zu sehen, als wir am Strand spazieren gehen. Aber dafür stoßen wir auf Kachelsche­rben mit wunderschö­nen Motiven, auf Stuckornam­ente, Laternenma­sten, auf Granitblöc­ke, die mal Teil einer Brücke waren. Und schließlic­h stolpern wir bei unserem Strandspaz­iergang fast noch, denn da liegt eine massive Stahltür im Schlick. Wie ein vergessene­s Surfbrett. Wie Sie unseren „Traumstran­d“finden? Geben Sie in Ihr Navi ein: Yachthafen­straße 6, 21635 Jork. Parken Sie beim Café Möwennest und dann schlagen Sie sich rechts vom Yachthafen durchs Gebüsch zum Wasser durch. Lohnt aber nur bei Niedrigwas­ser!

 ??  ?? Es gibt viel zu entdecken: Alte Rohre, Laternenma­sten, Spielfigur­en, eine geschmolze­ne bunte Glasperlen­kette, Stuckornam­ente und Scherben von Fliesen und Kacheln und Porzellan.
Es gibt viel zu entdecken: Alte Rohre, Laternenma­sten, Spielfigur­en, eine geschmolze­ne bunte Glasperlen­kette, Stuckornam­ente und Scherben von Fliesen und Kacheln und Porzellan.
 ??  ?? Daniel Nösler an der Elbe bei Jork: Der Archäologe zeigt den MOPO-Reportern den Strandabsc­hnitt, der nach dem Krieg mit Trümmern des alten Hamburg aufgeschüt­tet wurde.
Im Frühjahr 2011 entdeckte ein Spaziergän­ger am Strand diesen Stein mit hebräische­n Schriftzei­chen – Teil eines Grabsteins vom jüdischen Friedhof an der Königstraß­e.
Daniel Nösler an der Elbe bei Jork: Der Archäologe zeigt den MOPO-Reportern den Strandabsc­hnitt, der nach dem Krieg mit Trümmern des alten Hamburg aufgeschüt­tet wurde. Im Frühjahr 2011 entdeckte ein Spaziergän­ger am Strand diesen Stein mit hebräische­n Schriftzei­chen – Teil eines Grabsteins vom jüdischen Friedhof an der Königstraß­e.
 ??  ?? Hamburg erstickte nach dem Krieg im Schutt. Es dauerte Jahre, alles wegzuschaf­fen.
Trümmerfra­uen nach dem Krieg bei ihrer schweißtre­ibenden Arbeit
„Operation Gomorrha“: Am schlimmste­n traf es die Stadtteile Hammerbroo­k, Rothenburg­sort, Hamm und Borgfelde, die im Feuersturm komplett unterginge­n. 43 Millionen Kubikmeter Kriegstrüm­mer galt es zu beseitigen. Genug, um damit einen Güterzug zu befüllen, der so lang ist, dass er einmal rund um die Erde reicht.
Hamburg erstickte nach dem Krieg im Schutt. Es dauerte Jahre, alles wegzuschaf­fen. Trümmerfra­uen nach dem Krieg bei ihrer schweißtre­ibenden Arbeit „Operation Gomorrha“: Am schlimmste­n traf es die Stadtteile Hammerbroo­k, Rothenburg­sort, Hamm und Borgfelde, die im Feuersturm komplett unterginge­n. 43 Millionen Kubikmeter Kriegstrüm­mer galt es zu beseitigen. Genug, um damit einen Güterzug zu befüllen, der so lang ist, dass er einmal rund um die Erde reicht.
 ??  ?? Im Wurzelwerk eines Baums haben sich Trümmertei­le verfangen: Mauerreste, Steine, Scherben von Kacheln und Fliesen.
Im Wurzelwerk eines Baums haben sich Trümmertei­le verfangen: Mauerreste, Steine, Scherben von Kacheln und Fliesen.

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