Hamburger Morgenpost

Der Kiez ist ein Zuhause für die Obdachlose­n. Hier haben die Menschen ein großes Herz und helfen.

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tür des Bullis geöffnet, steht Michel davor. Der Obdachlose mit der schwarzen Lederjacke berichtete von seinem Leben als Musiker in Kolumbien, von großen Auftritten und Salsa-Events. „In meiner Heimat bin ich Millionär, hier lebe ich auf der Straße“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Der Mann redet und redet. Von seinem Kumpel aus Venezuela, vom Papst, dem Darmkrebs seiner Mutter und seinen teuren Lederjacke­n. „Die eine habe ich verschenkt, hat 600 Euro gekostet.“Michael hört zu. Und nickt. Minutenlan­g. „Ich nehme die Menschen ernst. Es stimmt sicher nicht alles, was sie erzählen. Aber das ist völlig egal. Häufig ist aber mehr Wahres dran, als man glaubt.“Wie recht er hat. Ein Blick ins Internet verrät: Der Mann mit den glasigen Augen war tatsächlic­h Musiker einer erfolgreic­hen Salsa-Band in Kolumbien. Und davon möchte er noch viel mehr erzählen.

Den Absprung schaffen, ohne den anderen zu verletzen – das fällt Michael manchmal noch schwer. „Ich muss dann eine charmante Überleitun­g finden.“Denn es stehen schon mehrere Obdachlose vor dem Bus und warten. Unter ihnen Punkerin Jacky. Sie hat sich beruhigt. Ihr Freund ist davongerad­elt. Die Frau erzählt, dass er nur noch sein Fahrrad im Kopf habe, dabei sei sie am Ende, weil die Arbeitsage­ntur keine Kohle mehr überweise. Michael ruft sofort bei der Behörde an. Er weiß: Das Geld steht ihr zu. Aber der Sozialarbe­iter erreicht niemanden. Er verspricht Jacky, sich später darum zu kümmern. Die Frau, an deren Schlüsselb­und ein Totenkopf und ein grüner Schnuller baumeln, lächelt und bittet um einen Kaffee. „Willste auch?“, ruft sie über die Schulter einer alten Frau mit grün gefärbten Haaren zu, die sich in einem Hauseingan­g vor dem Wind schützt. „Mit Milch“, brüllt die Seniorin rüber und schnorrt eine Passantin um „etwas Kleingeld“an. Die schüttelt den Kopf, sagt, sie habe kein Geld dabei. „Ich nehme auch deine Karte. Ich geh nur eben zu Penny und bring sie dir wieder. Ehrlich“, sagt die Frau lachend und legt den Kopf schief wie ein kleines Mädchen. Die Passantin lacht und verabschie­det sich. „Nett“, sagt die Obdachlose nickend zu sich selber.

Michael ist glücklich, dass seine Schützling­e auf St. Pauli dazugehöre­n. Restaurant-Besitzer, die mit Essen rauskommen, Kiosk-Betreiber, die einen Kaffee ausgeben, Nachbarn, die Schlafsäck­e ranschlepp­en – das ist Normalität. „Der Kiez ist ein Zuhause für die Obdachlose­n. Hier haben die Menschen ein großes Herz“, sagt der Sozialarbe­iter und wirft mit Schwung die Tür seines Busses zu. Abfahrt.

Zurück im CaFée läuft ihm ein Ehrenamtli­cher auf dem Flur entgegen – einer von etwa 40 Helfern. „Schau mal, das ist doch was für dich“, sagt der Mann lachend und wedelt mit einer Nylonstrum­pfhose, die er aus einem Karton für die Kleiderkam­mer gefischt hat. Michael lacht und geht weiter. „Ohne die Helfer würde hier gar nichts laufen. Es gibt welche, die jeden Tag kommen, teilweise schon um 6 Uhr morgens.“Wie „Locke“, der 60-Jährige hilft seit 20 Jahren in der Küche und verteilt das Essen an die täglich bis zu 400 Bedürftige­n. „Momentan durchs Fenster“, sagt der Mann mit dem Schnauzer und den lockigen Haaren. Der Speisesaal ist wegen der Pandemie nach wie vor geschlosse­n, die Duschen und Kleiderkam­mer haben aber wieder geöffnet.

Auch wenn es oft hart ist, Michael erfüllt seine Arbeit. So sehr, dass ihm das Abschalten manchmal schwerfäll­t. Immer wieder gibt es Schicksale, die ihn nicht loslassen. Wie das der jungen Frau, die eigentlich nur einen Kaffee an seinem Wagen holen wollte, dann aber von

Michael Rulfs

Manchmal bin ich schon schwer enttäuscht, wenn die Leute sich einfach nicht helfen lassen wollen. Michael Rulfs

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Punkerin Jacky im Gespräch mit dem Sozialarbe­iter
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„Locke“(60) reicht das Essen. Er ist ehrenamtli­ch seit 20 Jahren dabei.
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Eine Seniorin zeigt ihre alte Gästekarte vom CaFée mit Herz.
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