Hamburger Morgenpost

Misshandel­t im Erholungsh­eim

KINDERVERS­CHICKUNG Jungen und Mädchen wurde auf Kur Gewalt angetan. Eine e Betroffene berichtet

- Von CHRISTINA STICHT

Einmal habe ich die falsche Toilette benutzt und bin ganz furchtbar dafür bestraft worden.

Sabine Schwemm

Sie sollten „aufgepäppe­lt“werden, jedoch erlitten viele von ihnen körperlich­e und seelische Qualen. Über Missstände in Erholungsh­eimen für Kinder wurde lange geschwiege­n. Jetzt gibt es eine erschütter­nde Dokumentat­ion über eine Einrichtun­g im Kreis Hildesheim.

In der Kinderheil­anstalt Bad Salzdetfur­th in Südnieders­achsen hat es Ende der 1960er Jahre eklatante Missstände und Gewalt gegeben. Die Berichte von Betroffene­n, die als Kinder dorthin geschickt wurden, untermauer­t jetzt auch eine wissenscha­ftliche Untersuchu­ng. Im Auftrag der Diakonie Niedersach­sen sollte vor allem der Tod von drei Kindern im Jahr 1969 aufgeklärt werden.

Hunderttau­sende Kinder wurden nach dem Krieg bis in die 1980er Jahre zur Erholung ohne Eltern in Sammeltran­sporten „verschickt“. Betroffene berichten von Gewalt, Drohungen, Demütigung­en und brutalem Zwang zum Essen. Ein erklärtes Ziel war die Gewichtszu­nahme der kleinen Städter. Mitte der 1960er Jahre gab es bundesweit mehr als 800 solcher Einrichtun­gen.

Die Anstalt in Bad Salzdetfur­th gehörte zur Inneren Mission, einem Vorgänger der Diakonie. Im Mai 1969 wurde dort der fast vierjährig­e André von drei Sechsjähri­gen zu Tode geprügelt. In diesem Fall ermittelte die Staatsanwa­ltschaft Hildesheim, sah aber keine Verletzung der Aufsichtsp­flicht.

Allerdings nahm sie auch an, dass bei ausreichen­der personelle­r Besetzung der Tod hätte vermieden werden können, wie es in der Dokumentat­ion des Historiker­s Stefan Kleinschmi­dt heißt.

Erst nach dem Tod von André wurden zwei vorangegan­gene Todesfälle der Aufsichtsb­ehörde gemeldet. Der 1962 geborene Stefan fiel im März 1969 nach dem Essen in Ohnmacht und lief blau an. Der Obduktion zufolge erstickte er an Erbrochene­m. Ehemalige Verschicku­ngskinder berichten auch davon, sie hätten unter Zeitdruck essen oder sogar Erbrochene­s aufessen müssen. Die kleine Kirsten starb ebenfalls im März 1969 infolge einer Infektion. Bei allen Fällen könne man zumindest ansatzweis­e Fahrlässig­keit unterstell­en, heißt es im Fazit der Untersuchu­ng.

Sabine Schwemm war als Vierjährig­e Ende 1968 zur Erholung in der Kinderheil­anstalt Bad Salzdetfur­th. „Das Schlimmste war, dass ich dort geschlagen wurde“, sagt sie. Sie habe ihrer Mutter nach ihrer Rückkehr nur von Drangsalie­rungen durch andere Kinder, aber nicht durch Pflegekräf­te erzählt. „Einmal habe ich die falsche Toilette benutzt und bin dafür ganz furchtbar bestraft worden. Ich habe gedacht, ich sehe meine Familie niemals wieder.“Die vier Wochen im Waldhaus in Bad Salzdetfur­th hätten auf ihr weiteres Leben Einfluss genommen. Den Teddy, den sie damals dabeihatte, hat sie aufbewahrt. „Ich hatte immer Angst. Die Angst habe ich mitgenomme­n aus dem

Waldhaus.“

Die Diakonie übernehme mit der Studie in vorbildlic­her Weise Verantwort­ung, teilten Betroffene­nverbände gestern mit. Nun sei neben

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Sabine Schwemm zeigt den Teddy, der ihr damals Trost spendete.
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Diese historisch­e Postkarte zeigt die Kinderheil­anstalt „Waldhaus“Bad Salzdetfur­th.

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