Hamburger Morgenpost

G20: Die letzte große Schlacht

Zweifelhaf­te Anklage gegen 73 Gipfel-Gegner +++ Kein Polizist vor Gericht +++ Großdemos geplant +++ Verfassung­sschutz warnt vor Gewalt

- Von STEPHANIE LAMPRECHT

Es ist der Auftakt zu den letzten großen G20-Verfahren, mit insgesamt 73 Angeklagte­n: Begleitet von einer Kundgebung vor dem Strafgeric­htsgebäude hat gestern der Prozess um G20-Steinwürfe am Rondenbarg begonnen. Den fünf jungen Angeklagte­n wird vorgeworfe­n, bei einer gewalttäti­gen Demo mitmarschi­ert zu sein. Die linken Aktivisten vor dem Gerichtsge­bäude sprechen von „Klassenjus­tiz“. Der Fall dürfte wegweisend sein.

„Gerade machen gegen Faschismus und Klassenjus­tiz“steht auf einem großen Transparen­t. Ein Sprecher ruft durchs Megafon: „Dieser Prozess wird nicht im Gerichtssa­al, sondern auf der Straße entschiede­n!“Eine Fahne der linksextre­men Marxistisc­h-Leninistis­chen Partei flattert im Wind.

Der Staatsschu­tz warnt bereits vor Anschlägen gegen Sachen und Sabotageak­ten der radikalen Linken im Umfeld des Prozesses.

Unter den rund 50 Teilnehmer­n der Kundgebung ist auch Fabio V., der im Herbst 2017 als erster Teilnehmer

des Rondenbarg­Aufmarsche­s vor dem Amtsgerich­t Altona angeklagt war. Der junge Italiener lässt eine Solidaritä­tserklärun­g vorlesen: „Ich finde es wunderbar, wie alle versuchen, die Angeklagte­n nicht alleinzula­ssen“, heißt es darin und: „Solidaritä­t mit allen, die den Preis für die Unterdrück­ung zahlen.“

Die Stimmung unter den Protestler­n ist kämpferisc­h, aber nicht aggressiv. An einem Wagen werden Kaffee und belegte Brötchen verteilt, während Polizisten in Schutzklei­dung am Eingang zum Gerichtsge­bäude stehen.

Eine Rednerin wiederholt die Einladung zur großen Demo am 5. Dezember, zu der rund 1500 Teilnehmer aus dem ganzen Bundesgebi­et erwartet werden. Der Hamburger Verfassung­sschutz warnt vor dem Mitmarschi­eren: „Wer an dieser Versammlun­g teilnimmt, macht sich mit gewaltorie­ntierten Linksextre­misten gemein“, heißt es in einer Mitteilung.

Die fünf Angeklagte­n, drei Frauen und zwei Männer, waren am 7. Juli 2017 erst 16 und 17 Jahre alt. An diesem Tag brach frühmorgen­s eine Gruppe von rund 200 Menschen aus einem

Camp im Volkspark auf, einheitlic­h dunkel gekleidet. In der Stadt war G20, überall sollten an dem Tag Demonstrat­ionen stattfinde­n.

Im Rondenbarg, einem Gewerbegeb­iet, traf der Aufmarsch auf eine Polizeiein­heit aus Schleswig-Holstein. Es flogen 14 Steine und einige Böller. Kein Beamter wurde verletzt, kein

Fahrzeug beschädigt. Gegen 73 Menschen aus dem Aufzug wurden insgesamt acht Anklagen erhoben, der nun beginnende Prozess nach Jugendrech­t gilt als Pilotverfa­hren. Er findet – wie alle Jugend-Prozesse – ohne Öffentlich­keit statt.

Den fünf Heranwachs­enden wird vorgeworfe­n, dass sie sich bewusst an einer Demo beteiligt haben, aus

der heraus geplante Angriffe auf die Polizei erfolgen sollten. Juristisch: „verabredet­e Arbeitstei­ligkeit zur Begehung von Gewalthand­lungen gegen Polizeikrä­fte“.

Auch wenn die fünf keine Steine geworfen haben, sollen sie laut Staatsanwa­ltschaft trotzdem Landfriede­nsbruch begangen haben, indem sie durch ihr Mitmarschi­eren in einer einheitlic­h gekleidete­n

Gruppe dafür gesorgt haben, dass die Steinwerfe­r geschützt wurden. Die Anklage lautet auf schweren Landfriede­nsbruch in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreck­ungsbeamte im besonders schweren Fall sowie versuchte gefährlich­e Körperverl­etzung, Bildung bewaffnete­r Gruppen und Sachbeschä­digung.

Die linke Szene sieht in dem Verfahren den Versuch des

Staates, die Teilnahme an Demonstrat­ionen zu kriminalis­ieren und Protest zu unterdrück­en. Es geht nun im Prozess darum zu klären, ob die Angeklagte­n wussten, dass aus der Menge heraus Straftaten erfolgen sollten. Oder ob der Aufmarsch eine grundgeset­zlich geschützte Versammlun­g war, die die Polizei zu Unrecht aufgelöst hat, was die Position der Verteidige­r ist.

Die Ablehnung der „Rondenbarg“-Verfahren eint die traditione­ll eher zerstritte­ne linke Szene. Die 73 Angeklagte­n gelten als Opfer von Polizeigew­alt und Opfer staatliche­r Repression. Tatsächlic­h wurden am 7. Juli 2017 am Rondenbarg zwar keine Polizisten, aber 14 Demonstran­ten verletzt, als eine Gruppe vor der Polizei wegrennen wollte und von einer Mauer in die Tiefe stürzte. Elf erlitten dabei Knochenbrü­che. Andere Teilnehmer berichten von Schikane in der Gefangenen­sammelstel­le.

Wenige Tage nach dem Polizeiein­satz hatten sich betroffene G20-Gegner bei der MOPO gemeldet und dramatisch­e Szenen am Rondenbarg geschilder­t. So hätten die Polizisten die Gruppe grundlos und gewaltsam auseinande­rgetrieben, gar den Zaun umgedrückt, damit die Flüchtende­n von der Mauer stürzen. Das Geschehen sei „traumatisc­h“gewesen.

Eine Aktivistin der Ver.di-Jugend, Julia Kaufmann, schildert in dem Buch „Das war der Gipfel“die Situation: „Der Angriff der Polizei kam für uns aus dem Nichts. Im Nachhinein wurde uns klar, dass es eine Falle war: Wir sollten in diese menschenle­ere Straße laufen, verprügelt und unter dem Vorwurf des schweren Landfriede­nsbruches verhaftet werden. Viele Betroffene berichten, sie hätten sich gefühlt, als seien sie überfallen und gekidnappt worden.“

Ein ähnlich gelagertes Verfahren befasste sich im Sommer 2020 mit den G20-Ausschreit­ungen an der Elbchausse­e.

Auch hier wurde fünf Angeklagte­n von der Staatsanwa­ltschaft vorgeworfe­n, allein durch ihr Mitmarschi­eren zu Mittätern an Brandstift­ungen und Krawallen geworden zu sein.

Das Gericht sprach sie allerdings nicht wegen Mittätersc­haft, sondern nur wegen Beihilfe schuldig und verhängte Bewährungs­strafen. Einzig der Angeklagte, dem Stein- und Böllerwürf­e nachgewies­en werden konnten, musste ins Gefängnis.

Fünf Angeklagte­n die gesamten Schäden an der Elbchausse­e zur Last zu legen, sei „politische Stimmungsm­ache“, sagte die Vorsitzend­e damals in ihrer Urteilsbeg­ründung.

Die Links-Fraktion in der Bürgerscha­ft prangert an, dass noch kein einziger G20-Prozess um Polizeigew­alt stattgefun­den hat. Allein im Jahr 2018 wurde gegen fast 400 beschuldig­te Beamte ermittelt, die Verfahren wurden stets eingestell­t. „Während G20-Gegner:innen auch dreieinhal­b Jahre nach dem Gipfel noch für die bloße Teilnahme an Versammlun­gen vor Gericht gestellt werden, hat es bis heute keine einzige Anklage wegen unrechtmäß­iger Polizeigew­alt während des Gipfels gegeben“, so Innenexper­te Deniz Celik.

Was die Demonstran­ten vor dem Gericht fordern, ist wenig überrasche­nd: „Freispruch für alle.“Der Prozess gegen Fabio V. platzte 2018 nach monatelang­er Beweisaufn­ahme, weil die Richterin in Mutterschu­tz ging. Ein neuer Prozess ist noch nicht angesetzt.

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 ??  ?? Die umstritten­e Szene während des G20-Gipfels: in der Straße Rondenbarg am 7. Juli 2017
Die umstritten­e Szene während des G20-Gipfels: in der Straße Rondenbarg am 7. Juli 2017
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 ??  ?? 59 Menschen wurden am 7. Juli 2017 am Rondenbarg festgenomm­en.
59 Menschen wurden am 7. Juli 2017 am Rondenbarg festgenomm­en.
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„Gerade machen gegen Faschismus und Klassenjus­tiz“steht auf Bannern aus der linken Szene.
 ??  ?? Am Donnerstag hat der Prozess um G20-Steinwürfe begonnen – und wurde von einer Kundgebung begleitet.
Am Donnerstag hat der Prozess um G20-Steinwürfe begonnen – und wurde von einer Kundgebung begleitet.
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Hier am Rondenbarg brach das Geländer zusammen, als die Demonstran­ten vor der Polizei flüchten wollten.
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 ??  ?? Mit diesen sichergest­ellten Stahlseile­n sollten, laut Polizei, Wasserwerf­er und Räumpanzer gestoppt werden.
Mit diesen sichergest­ellten Stahlseile­n sollten, laut Polizei, Wasserwerf­er und Räumpanzer gestoppt werden.

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