G20: Die letzte große Schlacht
Zweifelhafte Anklage gegen 73 Gipfel-Gegner +++ Kein Polizist vor Gericht +++ Großdemos geplant +++ Verfassungsschutz warnt vor Gewalt
Es ist der Auftakt zu den letzten großen G20-Verfahren, mit insgesamt 73 Angeklagten: Begleitet von einer Kundgebung vor dem Strafgerichtsgebäude hat gestern der Prozess um G20-Steinwürfe am Rondenbarg begonnen. Den fünf jungen Angeklagten wird vorgeworfen, bei einer gewalttätigen Demo mitmarschiert zu sein. Die linken Aktivisten vor dem Gerichtsgebäude sprechen von „Klassenjustiz“. Der Fall dürfte wegweisend sein.
„Gerade machen gegen Faschismus und Klassenjustiz“steht auf einem großen Transparent. Ein Sprecher ruft durchs Megafon: „Dieser Prozess wird nicht im Gerichtssaal, sondern auf der Straße entschieden!“Eine Fahne der linksextremen Marxistisch-Leninistischen Partei flattert im Wind.
Der Staatsschutz warnt bereits vor Anschlägen gegen Sachen und Sabotageakten der radikalen Linken im Umfeld des Prozesses.
Unter den rund 50 Teilnehmern der Kundgebung ist auch Fabio V., der im Herbst 2017 als erster Teilnehmer
des RondenbargAufmarsches vor dem Amtsgericht Altona angeklagt war. Der junge Italiener lässt eine Solidaritätserklärung vorlesen: „Ich finde es wunderbar, wie alle versuchen, die Angeklagten nicht alleinzulassen“, heißt es darin und: „Solidarität mit allen, die den Preis für die Unterdrückung zahlen.“
Die Stimmung unter den Protestlern ist kämpferisch, aber nicht aggressiv. An einem Wagen werden Kaffee und belegte Brötchen verteilt, während Polizisten in Schutzkleidung am Eingang zum Gerichtsgebäude stehen.
Eine Rednerin wiederholt die Einladung zur großen Demo am 5. Dezember, zu der rund 1500 Teilnehmer aus dem ganzen Bundesgebiet erwartet werden. Der Hamburger Verfassungsschutz warnt vor dem Mitmarschieren: „Wer an dieser Versammlung teilnimmt, macht sich mit gewaltorientierten Linksextremisten gemein“, heißt es in einer Mitteilung.
Die fünf Angeklagten, drei Frauen und zwei Männer, waren am 7. Juli 2017 erst 16 und 17 Jahre alt. An diesem Tag brach frühmorgens eine Gruppe von rund 200 Menschen aus einem
Camp im Volkspark auf, einheitlich dunkel gekleidet. In der Stadt war G20, überall sollten an dem Tag Demonstrationen stattfinden.
Im Rondenbarg, einem Gewerbegebiet, traf der Aufmarsch auf eine Polizeieinheit aus Schleswig-Holstein. Es flogen 14 Steine und einige Böller. Kein Beamter wurde verletzt, kein
Fahrzeug beschädigt. Gegen 73 Menschen aus dem Aufzug wurden insgesamt acht Anklagen erhoben, der nun beginnende Prozess nach Jugendrecht gilt als Pilotverfahren. Er findet – wie alle Jugend-Prozesse – ohne Öffentlichkeit statt.
Den fünf Heranwachsenden wird vorgeworfen, dass sie sich bewusst an einer Demo beteiligt haben, aus
der heraus geplante Angriffe auf die Polizei erfolgen sollten. Juristisch: „verabredete Arbeitsteiligkeit zur Begehung von Gewalthandlungen gegen Polizeikräfte“.
Auch wenn die fünf keine Steine geworfen haben, sollen sie laut Staatsanwaltschaft trotzdem Landfriedensbruch begangen haben, indem sie durch ihr Mitmarschieren in einer einheitlich gekleideten
Gruppe dafür gesorgt haben, dass die Steinwerfer geschützt wurden. Die Anklage lautet auf schweren Landfriedensbruch in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte im besonders schweren Fall sowie versuchte gefährliche Körperverletzung, Bildung bewaffneter Gruppen und Sachbeschädigung.
Die linke Szene sieht in dem Verfahren den Versuch des
Staates, die Teilnahme an Demonstrationen zu kriminalisieren und Protest zu unterdrücken. Es geht nun im Prozess darum zu klären, ob die Angeklagten wussten, dass aus der Menge heraus Straftaten erfolgen sollten. Oder ob der Aufmarsch eine grundgesetzlich geschützte Versammlung war, die die Polizei zu Unrecht aufgelöst hat, was die Position der Verteidiger ist.
Die Ablehnung der „Rondenbarg“-Verfahren eint die traditionell eher zerstrittene linke Szene. Die 73 Angeklagten gelten als Opfer von Polizeigewalt und Opfer staatlicher Repression. Tatsächlich wurden am 7. Juli 2017 am Rondenbarg zwar keine Polizisten, aber 14 Demonstranten verletzt, als eine Gruppe vor der Polizei wegrennen wollte und von einer Mauer in die Tiefe stürzte. Elf erlitten dabei Knochenbrüche. Andere Teilnehmer berichten von Schikane in der Gefangenensammelstelle.
Wenige Tage nach dem Polizeieinsatz hatten sich betroffene G20-Gegner bei der MOPO gemeldet und dramatische Szenen am Rondenbarg geschildert. So hätten die Polizisten die Gruppe grundlos und gewaltsam auseinandergetrieben, gar den Zaun umgedrückt, damit die Flüchtenden von der Mauer stürzen. Das Geschehen sei „traumatisch“gewesen.
Eine Aktivistin der Ver.di-Jugend, Julia Kaufmann, schildert in dem Buch „Das war der Gipfel“die Situation: „Der Angriff der Polizei kam für uns aus dem Nichts. Im Nachhinein wurde uns klar, dass es eine Falle war: Wir sollten in diese menschenleere Straße laufen, verprügelt und unter dem Vorwurf des schweren Landfriedensbruches verhaftet werden. Viele Betroffene berichten, sie hätten sich gefühlt, als seien sie überfallen und gekidnappt worden.“
Ein ähnlich gelagertes Verfahren befasste sich im Sommer 2020 mit den G20-Ausschreitungen an der Elbchaussee.
Auch hier wurde fünf Angeklagten von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, allein durch ihr Mitmarschieren zu Mittätern an Brandstiftungen und Krawallen geworden zu sein.
Das Gericht sprach sie allerdings nicht wegen Mittäterschaft, sondern nur wegen Beihilfe schuldig und verhängte Bewährungsstrafen. Einzig der Angeklagte, dem Stein- und Böllerwürfe nachgewiesen werden konnten, musste ins Gefängnis.
Fünf Angeklagten die gesamten Schäden an der Elbchaussee zur Last zu legen, sei „politische Stimmungsmache“, sagte die Vorsitzende damals in ihrer Urteilsbegründung.
Die Links-Fraktion in der Bürgerschaft prangert an, dass noch kein einziger G20-Prozess um Polizeigewalt stattgefunden hat. Allein im Jahr 2018 wurde gegen fast 400 beschuldigte Beamte ermittelt, die Verfahren wurden stets eingestellt. „Während G20-Gegner:innen auch dreieinhalb Jahre nach dem Gipfel noch für die bloße Teilnahme an Versammlungen vor Gericht gestellt werden, hat es bis heute keine einzige Anklage wegen unrechtmäßiger Polizeigewalt während des Gipfels gegeben“, so Innenexperte Deniz Celik.
Was die Demonstranten vor dem Gericht fordern, ist wenig überraschend: „Freispruch für alle.“Der Prozess gegen Fabio V. platzte 2018 nach monatelanger Beweisaufnahme, weil die Richterin in Mutterschutz ging. Ein neuer Prozess ist noch nicht angesetzt.