Hamburger Morgenpost

ST. PAULIS BÄCKER-LEGENDE

„Kiezmensch­en“: Holger Rönnfeld, Meister der frivolen Kuchen:

- Von WIEBKE BROMBERG und MARIUS RÖER

Ihr Lachen kannten alle. Selbst bei geschlosse­ner Tür war es noch bis auf die Straße zu hören. Die Heidi Kabel vom Kiez wurde die kleine Frau mit der Brille und dem weißen Kittel genannt, die auch mit weit über 80 Jahren noch im Laden aushalf. Vor Kurzem ist Helga Rönnfeld an Krebs gestorben. „Das Ende einer Ära“, sagt ihr Sohn Holger (66). Er führte die vor 62 Jahren gegründete Konditorei Rönnfeld an der HeinHoyer-Straße fort. Ein winziger Laden mit noch kleinerer Backstube, in dem früher Hafenarbei­ter und „leichte Mädchen“ein- und ausgingen. In dem Nachbarn einfach mal auf einen Klönschnac­k vorbeikomm­en. Und frivole Backwaren über den Tresen gehen.

Nackte Mädels rekeln sich im Schaufenst­er – verpackt in Cellophant­ütchen. Die blonden Schönheite­n aus Marzipan heißen „Girlies“und werden seit Jahrzehnte­n in der Konditorei verkauft. Nicht das einzig unanständi­ge Backwerk. Auch frivole Klassiker wie MarzipanPe­nisse und -Brüste sind gefragt. Für Holger Rönnfeld kein Problem. „Wir sind auf St. Pauli. Wo, wenn nicht hier“, sagt der grauhaarig­e Mann mit der Goldkette, der sich selber als Backstuben-Manager bezeichnet. Allerdings hat er auch schon Aufträge ablehnt. Wie den Kackhaufen aus Marzipan, den sich ein Kunde wünschte. „So was Ekeliges mache ich nicht.“Und auch bei Torten mit politische­n Aussagen hat er sich immer geweigert. Einmal sei es jedoch aus Versehen politisch geworden. „Da kam ein Passant in den Laden und sagte, auf der Torte im Schaufenst­er sei ein serbischer Kampfaufru­f. Das war eine Auftragsar­beit. Wir wussten nicht, was da steht“, sagt Holger Rönnfeld.

Mehr als 50 Jahre lang stand der Mann in der Backstube der Konditorei. Dabei war er sich als Kind ganz sicher gewesen:

Wenn er groß ist, wird er Lokführer oder Lkw-Fahrer. Doch als das Ende der Schulzeit näherrückt­e, begann der junge Mann zu zweifeln. „Weil mir nichts Besseres eingefalle­n ist, bin ich dann mit 15 Jahren doch zu meinem Vater in die Lehre gegangen.“Sicher ist sicher.

In der Konditorei hatte Holger seine halbe Kindheit verbracht. Als er fünf Jahre alt war, eröffneten seine Eltern Helga und Harry das Geschäft. Seine erste Erinnerung: die Berge von Berlinern, die zu Silvester produziert wurden. Er weiß noch genau, wie seine Eltern den Teig lang zogen, in Portionen teilten und danach per Hand rund formten. „Natürlich unterschie­dlich rund. War halt handgemach­t“, sagt der Mann, der später selber rund 4000 Berliner zu Silvester produziert­e. Dafür reihten sich die Kiezianer gerne in die lange Schlange auf dem Gehweg ein.

Auch heute heißt es regelmäßig anstehen. Denn in den gerade mal knapp 20 Quadratmet­er großen Laden passen nur wenige Kunden. „Das Gute ist: Ein kleiner Laden wirkt immer voll. Auch wenn nur zwei Leute drinstehen“, sagt der Konditorme­ister grinsend. Vorne klein, hinten noch kleiner. In der Backstube sind es gerade mal 15 Quadratmet­er. Kaum vorstellba­r, dass hier fünfstöcki­ge Hochzeitst­orten entstehen. Und doch ist die Konditorei Rönnfeld auf die Produktion individuel­ler Torten spezialisi­ert.

Ein Kunde wollte einen Kackhaufen aus Marzipan. So was Ekeliges mache ich nicht. Und auch bei Torten mit politische­n Aussagen habe ich mich immer geweigert.

Holger Rönnfeld

Holger ist stolz auf die Designs, die seine Frau Monika (eigentlich gelernte Friseurin) entworfen hat. Die größte Torte ging ins Volksparks­tadion. „Die war 1,80 mal 1,20 Meter groß und musste in Einzelteil­en angeliefer­t werden.“Zwar ist der Konditor bekennende­r FC St. PauliFan, sein Fußballher­z habe aber nicht geblutet. „Auftrag ist Auftrag“, sagt er.

Holger Rönnfeld lehnt in der Backstube an dem weißen Ofen – ein Original aus den 50er Jahren. Genauso wie die vertäfelte­n Wände, hellbraune­n Kacheln, runden Hängelampe­n und gläsernen Auslagen. Alles ist so, wie seine Eltern es vor 62 Jahren geschaffen haben. Eine eigene kleine Welt. In die Holger Rönnfeld heute jedoch nur noch zu Besuch kommt. Anfang des Jahres ist er in den Ruhestand gegangen und hat das Unternehme­n abgegeben. Seine langjährig­e Mitarbeite­rin Birgit Aue (50), die knapp 30 Jahre lang für ihn arbeitete, führt das Erbe fort. Wehmut? Nicht die Spur. „Hätte Birgit nicht weitergema­cht, wäre es vermutlich anders. Aber so weiß ich, dass der Laden in guten Händen ist.“

Holger Rönnfeld genießt den Ruhestand, die Zeit mit den Enkeln und das Reisen mit seiner Frau Monika. Sogar das frühe Aufstehen hat er hinter sich gelassen. „Je länger meine Zeit als Konditor vorbei ist, desto länger schlafe ich. Ich mache mir schon ernsthafte Gedanken“, sagt der Mann. Früher sei er mit der Hälfte des Schlafs ausgekomme­n. Allerdings ist der Konditorme­ister nie wie andere Kollegen mitten in der Nacht aufgestand­en. Auf St. Pauli ticken die Uhren anders. Da war es nicht nötig, vor 5.30 Uhr im Laden zu sein.

Und auch die Menschen ticken anders. „Das ist hier ein eigenes Volk. Die Leute sind sehr herzlich und direkt. Uns hat es immer viel bedeutet, auf St. Pauli tätig zu sein“, sagt der 66-Jährige, der selber auf dem Kiez groß geworden ist. Er erinnert sich noch an die „leichten Damen“, die er als junger Mann im Laden beäugte. Die Hafenarbei­ter, die sich nach der Schicht mit Kuchen eindeckten. Und die prominente­n Kunden wie Schauspiel­er Ulrich Tukur und Jan Fedder, Moderatori­n Bettina Tietjen, Lilo Wanders als „Jung“und Olivia Jones als „Mädel“. Der größte Star ist für Holger Rönnfeld jedoch ein Mann, der sich niemals als solcher bezeichnen würde. Kapitän und Seenotrett­er Dariush Beigui, der in seiner Freizeit Flüchtling­e im Mittelmeer rettet. „Ein freundlich­er, zurückhalt­ender Mensch, der Großartige­s leistet.“

Heute kommen größtentei­ls Familien. Und das Partyvolk. „Teilweise sternhagel­voll. Aber benommen haben die sich immer. Es gab nie Stress.“Nie Stress? In 62 Jahren? Holger Rönnfeld überlegt. Er verschränk­t die Arme vor der Brust, lehnt sich zurück. „Na ja, nicht nennenswer­t.“Das ein oder andere Kind habe mal eine Capri-Sonne gestohlen und den ein oder anderen Einbruch habe es auch gegeben. Einmal kamen die Täter durch das Oberlicht der Tür. Sie bauten dafür extra die Stangen vor der Scheibe ab. „Die Kasse bekamen sie nicht geöffnet, obwohl man nur hätte auf den Kopf drücken müssen.“Ohne Beute verschwand­en die Einbrecher – und schraubten sogar extra die Stangen vor dem Oberlicht wieder an. „Auf dem Kiez sind sogar die Einbrecher freundlich“, sagt Holger Rönnfeld grinsend und lässt sich von Birgit eine „Leipziger Lerche“einpacken – aber nicht ohne zu bezahlen.

Die Marzipan-Törtchen, Verkaufssc­hlager der Konditorei, isst er am liebsten. Sie erinnern ihn an früher. Als sein Vater, der bereits vor vier Jahren verstarb, mit ihm in der kleinen Backstube arbeitete und seine Mutter vorne Klönschnac­k mit den Kunden hielt. Sie nahm sich Zeit – egal wie voll der Laden war. Es sind schöne Erinnerung­en für Holger Rönnfeld, keine schmerzlic­hen. Schließlic­h seien seine Eltern beide stolze 92 Jahre alt geworden. Und haben mit der Konditorei eine eigene kleine Welt geschaffen. Auf dem Kiez und für den Kiez.

Das ist hier ein eigenes Volk. Die Leute sind herzlich und direkt. Uns hat es viel bedeutet, auf St. Pauli tätig zu sein. Holger Rönnfeld

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 ??  ?? Klönschnac­k in der Backstube: Konditor Holger Rönnfeld (66) und seine Nachfolger­in Birgit Aue (50)
Klönschnac­k in der Backstube: Konditor Holger Rönnfeld (66) und seine Nachfolger­in Birgit Aue (50)
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 ??  ?? Oben: Die nackten „Girlies“aus Marzipan sind besonders gefragt.
Mitte: Holger Rönnfeld vor der Konditorei an der Hein-Hoyer-Straße. Seine Eltern eröffneten den kleinen Laden vor 62 Jahren. Unten: Die „Herzen von St. Pauli“– extra mit Blume, falls die Ehegatten mal wieder vergessen haben, Blumen zu besorgen.
Oben: Die nackten „Girlies“aus Marzipan sind besonders gefragt. Mitte: Holger Rönnfeld vor der Konditorei an der Hein-Hoyer-Straße. Seine Eltern eröffneten den kleinen Laden vor 62 Jahren. Unten: Die „Herzen von St. Pauli“– extra mit Blume, falls die Ehegatten mal wieder vergessen haben, Blumen zu besorgen.
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Birgit Aue (l.) und Monika Rönnfeld mit einer Torte für das Operettenh­aus
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Konditorin Maayken Schult (20) kommt eigentlich von Amrum. Die Insel ist ihr zu ruhig.
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 ??  ?? Familienbe­trieb: Holger mit seinen mittlerwei­le verstorben­en Eltern Helga und Harry Rönnfeld und Ehefrau Monika (v. l.)
Familienbe­trieb: Holger mit seinen mittlerwei­le verstorben­en Eltern Helga und Harry Rönnfeld und Ehefrau Monika (v. l.)
 ??  ?? Holger Rönnfeld mit einem Blech „Leipziger Lerchen“– der Spezialitä­t der Konditorei
Holger Rönnfeld mit einem Blech „Leipziger Lerchen“– der Spezialitä­t der Konditorei
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Ende der 50er Jahre: Helga Rönnfeld mit einem Kunden
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Holger mit Birgit im Laden, in dem noch alles original ist

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