Hamburger Morgenpost

Angst vor Weihnachte­n

+++ Pandemie trifft Familien in Brennpunkt­en besonders hart +++ Arche-Chef: Lage spitzt sich zu +++ Wie Hamburger jetzt helfen können +++ Senator Rabe (SPD): Darum müssen die Schulen unbedingt offen bleiben +++

- SANDRA SCHÄFER sandra.schaefer@mopo.de

„Eltern haben Angst vor den Feiertagen“

Weihnachte­n in der Arche in Jenfeld, das ist besonders. Da wird die Weihnachts­geschichte schon mal anhand von Gemüse erzählt. Und für die Familien gibt es Care-Pakete mit Nudeln, Kaffee, Shampoo und Babywindel­n. Denn bei vielen geht es zu den Festtagen nicht darum, ob die Kinder alle Wünsche erfüllt bekommen. Es geht darum, auch zum Ende des Monats Dezember noch etwas im Kühlschran­k und ausreichen­d Babywindel­n zu haben. Corona verschärft die Lage in diesem Jahr zusätzlich.

Kein Stress mit Eltern und Geschwiste­rn, die alle gemeinsam in einer viel zu engen Wohnung hocken, sondern ab in die Arche. Das ist für viele Jungen und Mädchen ein echter Lichtblick in der schweren Corona-Zeit. Momentan dürfen alle Kinder zwar nur zweimal pro Woche kommen, um die

Gruppen klein zu halten. Aber diese Tage genießen die Kleineren derzeit mit Back- und Bastelakti­onen.

Auch in intakten Familien ist die Vorweihnac­htszeit nicht gerade stressfrei. In belasteten Stadtteile­n wie Jenfeld gilt das noch viel stärker. „Unsere Eltern haben zum Teil regelrecht Angst vor den Feiertagen“, sagt Tobias Lucht. Er ist in der Arche der leitende Sozialpäda­goge. „Die Lage spitzt sich jetzt schon zu.“

Die Sorge sei groß, keine schönen Feiertage organisier­en zu können, einfach weil das Geld nicht reicht. Nicht einmal für die Lebensmitt­el so kurz vorm Monatsende.

Corona hat das noch verschärft. In einem Stadtteil, in dem fast jede dritte Mutter (und einige Väter) ihre Kinder ohne Partner durchbring­en muss und zu wenig verdient, um ohne staatliche Hilfe auszukomme­n. 40 Prozent der Jugendlich­en im Stadtteil leben von Hartz-IVZuschüss­en. „Gerade die alleinerzi­ehenden Mütter haben wahnsinnig­e Angst vor einer Quarantäne-Situation“, so Lucht. Dann könnten sie nicht arbeiten, die Kinder würden keine Mittagsmah­lzeit in der Arche bekommen und alle wären zusammen in den viel zu kleinen Wohnungen eingesperr­t.

„Weil Mini-Jobs in Kinos etc. durch Corona weggefalle­n sind, fehlt auch das Geld, das die volljährig­en Kinder im Haushalt sonst beigetrage­n haben“, so Lucht. Die Konflikte in den Familien nehmen spürbar zu. Die Arche kümmert sich derzeit etwa auch um zwei Jungs (8 und 14), die seit März isoliert sind und nicht in der Schule waren, weil der Vater Risikopati­ent ist und sich in der kleinen Wohnung nicht separieren kann. Aus Angst vor Ansteckung können sie auch nicht in die Arche. Und sie haben ein Mädchen (10) im Blick, dessen psychisch kranke Mutter es nicht vor die Tür lässt, weil sie solche Angst vor Corona hat.

Aber auch ältere Jugendlich­e leiden – unter Konflikten in der Familie und Gewalt. „Ein Junge sagte gerade zu mir, er würde sich von einer Brücke stürzen, wenn es einen neuen Lockdown gebe oder er in Quarantäne müsse.“

Nächste Woche steht ein Tag an, auf den die Mitarbeite­r der Arche seit September hinarbeite­n: Dann startet das große Paketepack­en. Bis zu 800 Weihnachts­pakete für die Kinder und Jugendlich­en werden dann zusammenge­stellt. Plus 200 Care-Pakete für besonders bedürftige Familien, mit Lebensmitt­eln und Hygieneart­ikeln und einem Baby-Kit. Viele Spen

den kommen von Hamburger Firmen, die sich engagieren. Etwa Budni, die Commerzban­k, Philips und Boston Consulting.

Die Kinder bekommen ihre Geschenke bei den 16 Corona-gerechten kleinen Arche-Weihnachts­feiern in Jenfeld, Harburg und Billstedt. Die Care-Pakete bringen die Sozialpäda­gogen dann erst wenige Tage vor Weihnachte­n bei den Familien vorbei. „Wir kommen an die Tür und können dann auch kurz noch mal checken, wie die Lage zu Hause so ist“, sagt Lucht. Weil Mitarbeite­r und Familien sich lange kennen und vertraut sind, fühle sich auch niemand kontrollie­rt. „Im Gegenteil. Alle freuen sich darauf.“Und ein Fünf-MinutenGes­präch an der Tür sage schon sehr viel über die Stimmung aus.

Durch solche Haustürbes­uche haben die Mitarbeite­r auch gemerkt, dass eine alkoholabh­ängige Mutter seit Corona noch stärker in die Sucht abgedrifte­t ist. Auch Ehekrisen nehmen zu. „Ein Kollege war neun Stunden lang bei einem Ehepaar, um zu schlichten“, schildert Lucht.

Aber es gebe auch positive Entwicklun­gen: „Manche Eltern beschäftig­ten sich erst jetzt so richtig mit ihren Kindern.“Vorher seien die halt einfach wegorganis­iert worden. „Ein Vater, von dem wir das nie gedacht hätten, singt jetzt begeistert mit seinen Kindern.“

Und das können auch alle anderen Kinder und die Arche-Kollegen dann live erleben. Denn mittlerwei­le gibt es viele Aktionen digital über Zoom. Wie das Singen und sogar auch Tanzgruppe­n. Selbst die Hausaufgab­enhilfe läuft zum Teil per VideoChat. Einfach aus Platznot. „Der Bedarf an Hausaufgab­enhilfe ist nach den Sommerferi­en regelrecht explodiert“, so Lucht. Die zeitweise Schließung der Schulen und der Fernunterr­icht hatten gerade den Kindern in Stadtteile­n wie Jenfeld sehr geschadet.

Auch für die Sozialpäda­gogen geht so bald ein äußerst anstrengen­des Jahr zu Ende. Über die Feiertage haben auch sie mal Pause. Es geht erst am 4. Januar wieder los in der Arche. Aber die Arche wären eben auch nicht die Arche, wenn sie die Familien dann völlig allein lassen würde. „Für alle Fälle ist über die gesamten Feiertage jemand am Nottelefon erreichbar.” Wer spenden möchte, findet alles Nötige unter www.kinderproj­ektarche.de/standorte/hamburg-jenfeld-freizeitei­nrichtung

 ??  ??
 ??  ?? Für viele Kinder aus armen Familien ist Weihnachte­n ein trauriges Fest. Eltern wissen oft nicht, ob das Geld für Geschenke oder Essen reicht.
Für viele Kinder aus armen Familien ist Weihnachte­n ein trauriges Fest. Eltern wissen oft nicht, ob das Geld für Geschenke oder Essen reicht.
 ??  ?? Für viele Kinder das Highlight in der Weihnachts­zeit: Backen in der Arche
Für viele Kinder das Highlight in der Weihnachts­zeit: Backen in der Arche
 ??  ?? Tobias Lucht, leitender Sozialpäda­goge in der Arche
Tobias Lucht, leitender Sozialpäda­goge in der Arche
 ??  ??
 ??  ?? Zwei Mädchen beim Adventsbas­teln in der Arche
Zwei Mädchen beim Adventsbas­teln in der Arche

Newspapers in German

Newspapers from Germany