Angst vor Weihnachten
+++ Pandemie trifft Familien in Brennpunkten besonders hart +++ Arche-Chef: Lage spitzt sich zu +++ Wie Hamburger jetzt helfen können +++ Senator Rabe (SPD): Darum müssen die Schulen unbedingt offen bleiben +++
„Eltern haben Angst vor den Feiertagen“
Weihnachten in der Arche in Jenfeld, das ist besonders. Da wird die Weihnachtsgeschichte schon mal anhand von Gemüse erzählt. Und für die Familien gibt es Care-Pakete mit Nudeln, Kaffee, Shampoo und Babywindeln. Denn bei vielen geht es zu den Festtagen nicht darum, ob die Kinder alle Wünsche erfüllt bekommen. Es geht darum, auch zum Ende des Monats Dezember noch etwas im Kühlschrank und ausreichend Babywindeln zu haben. Corona verschärft die Lage in diesem Jahr zusätzlich.
Kein Stress mit Eltern und Geschwistern, die alle gemeinsam in einer viel zu engen Wohnung hocken, sondern ab in die Arche. Das ist für viele Jungen und Mädchen ein echter Lichtblick in der schweren Corona-Zeit. Momentan dürfen alle Kinder zwar nur zweimal pro Woche kommen, um die
Gruppen klein zu halten. Aber diese Tage genießen die Kleineren derzeit mit Back- und Bastelaktionen.
Auch in intakten Familien ist die Vorweihnachtszeit nicht gerade stressfrei. In belasteten Stadtteilen wie Jenfeld gilt das noch viel stärker. „Unsere Eltern haben zum Teil regelrecht Angst vor den Feiertagen“, sagt Tobias Lucht. Er ist in der Arche der leitende Sozialpädagoge. „Die Lage spitzt sich jetzt schon zu.“
Die Sorge sei groß, keine schönen Feiertage organisieren zu können, einfach weil das Geld nicht reicht. Nicht einmal für die Lebensmittel so kurz vorm Monatsende.
Corona hat das noch verschärft. In einem Stadtteil, in dem fast jede dritte Mutter (und einige Väter) ihre Kinder ohne Partner durchbringen muss und zu wenig verdient, um ohne staatliche Hilfe auszukommen. 40 Prozent der Jugendlichen im Stadtteil leben von Hartz-IVZuschüssen. „Gerade die alleinerziehenden Mütter haben wahnsinnige Angst vor einer Quarantäne-Situation“, so Lucht. Dann könnten sie nicht arbeiten, die Kinder würden keine Mittagsmahlzeit in der Arche bekommen und alle wären zusammen in den viel zu kleinen Wohnungen eingesperrt.
„Weil Mini-Jobs in Kinos etc. durch Corona weggefallen sind, fehlt auch das Geld, das die volljährigen Kinder im Haushalt sonst beigetragen haben“, so Lucht. Die Konflikte in den Familien nehmen spürbar zu. Die Arche kümmert sich derzeit etwa auch um zwei Jungs (8 und 14), die seit März isoliert sind und nicht in der Schule waren, weil der Vater Risikopatient ist und sich in der kleinen Wohnung nicht separieren kann. Aus Angst vor Ansteckung können sie auch nicht in die Arche. Und sie haben ein Mädchen (10) im Blick, dessen psychisch kranke Mutter es nicht vor die Tür lässt, weil sie solche Angst vor Corona hat.
Aber auch ältere Jugendliche leiden – unter Konflikten in der Familie und Gewalt. „Ein Junge sagte gerade zu mir, er würde sich von einer Brücke stürzen, wenn es einen neuen Lockdown gebe oder er in Quarantäne müsse.“
Nächste Woche steht ein Tag an, auf den die Mitarbeiter der Arche seit September hinarbeiten: Dann startet das große Paketepacken. Bis zu 800 Weihnachtspakete für die Kinder und Jugendlichen werden dann zusammengestellt. Plus 200 Care-Pakete für besonders bedürftige Familien, mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln und einem Baby-Kit. Viele Spen
den kommen von Hamburger Firmen, die sich engagieren. Etwa Budni, die Commerzbank, Philips und Boston Consulting.
Die Kinder bekommen ihre Geschenke bei den 16 Corona-gerechten kleinen Arche-Weihnachtsfeiern in Jenfeld, Harburg und Billstedt. Die Care-Pakete bringen die Sozialpädagogen dann erst wenige Tage vor Weihnachten bei den Familien vorbei. „Wir kommen an die Tür und können dann auch kurz noch mal checken, wie die Lage zu Hause so ist“, sagt Lucht. Weil Mitarbeiter und Familien sich lange kennen und vertraut sind, fühle sich auch niemand kontrolliert. „Im Gegenteil. Alle freuen sich darauf.“Und ein Fünf-MinutenGespräch an der Tür sage schon sehr viel über die Stimmung aus.
Durch solche Haustürbesuche haben die Mitarbeiter auch gemerkt, dass eine alkoholabhängige Mutter seit Corona noch stärker in die Sucht abgedriftet ist. Auch Ehekrisen nehmen zu. „Ein Kollege war neun Stunden lang bei einem Ehepaar, um zu schlichten“, schildert Lucht.
Aber es gebe auch positive Entwicklungen: „Manche Eltern beschäftigten sich erst jetzt so richtig mit ihren Kindern.“Vorher seien die halt einfach wegorganisiert worden. „Ein Vater, von dem wir das nie gedacht hätten, singt jetzt begeistert mit seinen Kindern.“
Und das können auch alle anderen Kinder und die Arche-Kollegen dann live erleben. Denn mittlerweile gibt es viele Aktionen digital über Zoom. Wie das Singen und sogar auch Tanzgruppen. Selbst die Hausaufgabenhilfe läuft zum Teil per VideoChat. Einfach aus Platznot. „Der Bedarf an Hausaufgabenhilfe ist nach den Sommerferien regelrecht explodiert“, so Lucht. Die zeitweise Schließung der Schulen und der Fernunterricht hatten gerade den Kindern in Stadtteilen wie Jenfeld sehr geschadet.
Auch für die Sozialpädagogen geht so bald ein äußerst anstrengendes Jahr zu Ende. Über die Feiertage haben auch sie mal Pause. Es geht erst am 4. Januar wieder los in der Arche. Aber die Arche wären eben auch nicht die Arche, wenn sie die Familien dann völlig allein lassen würde. „Für alle Fälle ist über die gesamten Feiertage jemand am Nottelefon erreichbar.” Wer spenden möchte, findet alles Nötige unter www.kinderprojektarche.de/standorte/hamburg-jenfeld-freizeiteinrichtung