„Unser System versagt von den Ergebnissen her“
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer über Corona und seinen Sonderweg
HANNOVER - Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (48, Grüne) ist nicht nur für seine streitbare Natur bekannt – ein Erbe seines Vaters, eines widerständigen Obstbauern und politischen Solokämpfers gegen Bürokratie und braune Überbleibsel in Justiz und Verwaltung, der es als „Remstal-Rebell“zu einiger Berühmtheit brachte – er geht als Politiker gern auch eigene Wege. Das trifft auch auf den Umgang mit der Corona-Pandemie zu, die Palmer als Stadtoberhaupt ganz anders angegangen hat als andere Kommunen im Land. Der Schutz der Risikogruppen stand stets im Vordergrund. Und bis vor einer guten Woche waren Tübingens Alten- und Pflegeheime tatsächlich seit Mai coronafrei. Nun hat es aber auch einige Heime der Universitätsstadt getroffen. Ist damit der Tübinger Weg gescheitert? Darüber und über andere Aspekte der Pandemie spricht der zweifache Vater im Interview mit Daniel Killy.
Wie ist denn im Moment die Lage in Tübingen? Es gab ja durchaus die eine oder andere Stimme, die nach den frischen Corona-Fällen in Senioreneinrichtungen gesagt hat, das sei es nun wohl gewesen mit dem Tübinger Modell …
Boris Palmer: Ich hatte in der vergangenen Woche gesagt, dass es keine Fälle bei uns gegeben habe, das stimmte auch. Ich habe aber nicht gesagt, wir werden niemals Fälle haben. Jetzt haben leider auch wir Infektionen in Altenheimen. Für mich ist aber nicht die entscheidende Frage, ob wir Fälle haben, sondern ob wir durch die Tests weniger Fälle haben. Wir haben jetzt drei interessante Konstellationen, die meines Erachtens beweisen, dass wir das richtig angehen in Tübingen.
Was sind das für Konstellationen?
Erstens haben wir einen Fall, wo eine Patientin, die aus dem Krankenhaus entlassen wurde, als nicht infiziert galt und wir dann bei unserem eigenen obligatorischen Eingangstest für das Heim festgestellt haben, hoppla, die hat Corona. Und hätten wir das nicht gemacht, so wie viele Häuser anderswo, dann hätten wir mit Sicherheit in dem Haus bald darauf 20 bis 50 Infizierte und etliche Tote gehabt. Im Moment sieht es so aus, dass es außer dieser einen eingeschleppten Infektion keine weiteren in diesem Heim gibt. Das scheint mir ein gutes Beispiel dafür zu sein, dass es richtig ist, was wir machen. Der zweite Fall ist nicht ganz so positiv, aber trotzdem ein Teilerfolg: der zweite von derzeit drei Ausbrüchen in Tübingen. Eine Mitarbeiterin hat sich, wie wir mittlerweile wissen, bei ihrem Kind angesteckt, das sich in der Kita infiziert hatte. Durch die asymptomatischen Tests konnten wir die Infektion der Mitarbeiterin erkennen und sie von der Arbeit abziehen. In diesem Heim haben wir sechs Fälle zu beklagen. Das ist zwar mehr, als man sich wünschen würde, aber trotzdem haben wir nicht diese Ketteninfektion durchs ganze Heim, sondern konnten die Infektion eingrenzen, weil wir im Nachgang alle Bewohner und Mitarbeiter mehrfach mit Schnelltests und PCR-Tests durchgecheckt haben. Nur in einem Fall haben wir einen Großausbruch mit derzeit fast 30 Infizierten. Das liegt aber wahrscheinlich daran, dass dieses Heim in privater Trägerschaft ist und jetzt erklärt hat, es habe gar keine Schnelltests. Da fällt man fast vom Glauben ab, wenn man sich darum so bemüht hat. Die haben einfach nicht umgesetzt, was wir vereinbart haben. Alle Heime haben mehrfach von mir Schreiben erhalten, dass genügend Schnelltests zur Verfügung stünden – die Stadt zahlt sie, ihr müsst sie nur ordern und nutzen. Der große Ausbruch ist also eher ein Hinweis darauf, dass unser Schutzkonzept funktioniert. Denn es wurde gar nicht angewandt. Deshalb bin ich nach wie vor der Meinung, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Wenn man es beherzigt, funktioniert das System also …
Der Großausbruch hat praktisch nichts damit zu tun, was wir wollen. Das Heim hat einfach entschieden: Wir machen nicht mit – wovon ich nichts wusste. Die anderen Fälle sind halt so gut ausgegangen, wie es unser System zulässt. Es gibt immer Lücken beim Testen, auch wenn man jeden drei Mal die Woche testen lässt. Durch
solch eine Lücke ist eine Infektion ins Heim reingerutscht. Aber wir haben das so schnell gemerkt, dass wir das Durchlaufen der Welle im Heim verhindern konnten – das ist das Argument.
Wie würden Sie den Tübinger Weg kurz und bündig als Exportmodell beschreiben?
Also das Prinzip ist ganz klar: Wir fokussieren unsere Schutzanstrengungen auf Menschen über 65 Jahren, weil die das größte individuelle Risiko tragen zu erkranken. Aber auch das größte systemische Risiko tragen sie: ein Intensivbett beanspruchen zu müssen, das dann wiederum für einen Engpass sorgt. Und um diesen Schutz zu verbessern, ergreifen wir Maßnahmen, die wir nicht für alle finanzieren können. Das heißt zum Beispiel Einzelfahrten im Taxi für Personen über 65 Jahren zum Preis des Busses, kostenlose Versorgung mit
FFP-2-Masken schon im November – das fängt der Bund ja jetzt an. Intensives Testen im Bereich der Zutrittsbarriere zu den Pflegeheimen. Und dann haben wir noch etwas, was wahrscheinlich am wenigsten beachtet wird und wo ich mich freuen würde, wenn es noch verbessert würde im Lockdown: das Zeitfenster zum Einkaufen, das wir für die Senioren reserviert haben zwischen 9 und 11 Uhr morgens. Es sind also immer Versuche, den Übertritt des Virus von der Allgemeinbevölkerung, wo es keinen zu großen Schaden anrichtet, auf die vulnerablen Gruppen möglichst zu verhindern oder die Wahrscheinlichkeit zu verringern.
Im Lande hingegen wird die Ultima Ratio bereits angewendet mit dem für deutsche Verhältnisse doch recht strengen Lockdown. Da bleiben danach nicht mehr so viele Eskalationsmöglichkeiten.
Ich sehe Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote auch als Ultima Ratio. Deshalb halte ich es für besonders abstrus, dass man vorgelagerte Schutzmaßnahmen gar nicht erst ergriffen hat. Das bezieht sich sowohl auf die Kontaktverfolgung wie auch auf die Strategie, die Risikogruppen zu schützen.
Wie sehen Sie denn die Situation im kommenden Frühjahr aus heutigem Blickwinkel?
Da gibt es zwei Phasen: Die erste ist nach dem 10. Januar, da bin ich skeptisch. Die Erfahrung aus Berchtesgaden scheint mir ziemlich deutlich zu zeigen, dass man nach drei Wochen keine Chance hat, auf eine Inzidenz unter 50 zu kommen, wenn man einen so hohen Schnitt hat wie wir gerade in Deutschland, nämlich 170. Das wird nicht reichen – also keine Chance, danach wieder aufzumachen und zu sagen, jetzt richtet es die Kontaktverfolgung. Da wäre jetzt mein großer Wunsch an die Politik, die Zeit bis zum 10. Januar zu nutzen, um die Säule der Kontaktbeschränkungen und -verbote zu ergänzen mit den anderen Säulen Risikogruppen-Schutz und Kontaktverfolgung. Die zweite Phase ist die, wenn der Impfstoff ausreichend zur Verfügung steht, im Frühling. Da bin ich sehr optimistisch. Ich glaube, dass die Sache im Mai weitgehend durchgestanden ist. Es wird noch weitere CoronaWellen geben danach, aber eben nicht mehr so gefährliche. Und dann wird die Verantwortung allmählich auf die Zivilbevölkerung übergehen, sich zu schützen – so wie es jetzt auch mit der Grippeimpfung ist. Da muss sich auch jeder selbst überlegen, ob er lieber die Impfung haben möchte oder die Grippe.
Manchmal scheinen sich die Debatten über Corona und andere politische Auseinandersetzungen fast mit Max Webers Gegensätzen der Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zu definieren …
Das ist ein Thema, das ich regelmäßig erlebe in der Auseinandersetzung mit meiner Partei. Mit Webers Kategorien lässt sich ein Problem der Grünen sehr präzise beschreiben: dass wir immer wieder in den Reflex verfallen, die Dinge gesinnungsethisch zu bewerten und für die Folgen keine Verantwortung übernehmen wollen. Ich halte den Begriff Folgen-Ethik in heutiger Rede vielleicht sogar für passender. Denn es geht ja nicht darum, dass verantwortungslos ist, wer ethische Prinzipien hat, sondern es geht drum, ob man sich an den Folgen seines Handelns messen lässt oder ob es einem genügt, dass man in der EremitenHöhle zu der Überzeugung gekommen ist, dass die eigenen Grundsätze edel sind.
Apropos Anerkennung: Wie sehen Sie denn die Chancen, dass sich das Tübinger Modell doch noch durchsetzt?
Das hat sich schon durchgesetzt. Die wichtigsten beiden Maßnahmen, nämlich kostenfreie Verteilung von FFP-2-Masken und verpflichtende Tests für die Altenheime, sind jetzt Vereinbarungen auf Bundesebene und werden umgesetzt – das Modell ist praktisch durch.