Hamburger Morgenpost

DER PAULI-PASTOR

Sieghard Wilm ist „Kiezmensch“, Seelsorger, Clubgänger:

- Von WIEBKE BROMBERG und MARIUS RÖER

Sieghard Wilm und St. Pauli – das ist eine große Liebesgesc­hichte. Keine romantisch­e, über die Jahre verklärte. Es ist eine ehrliche Liebe. Voller Zuneigung, Respekt und Zusammenha­lt. Aber auch voller Zweifel, Ablehnung – ja, sogar Hass. Sieghard Wilm (55) ist seit 18 Jahren Pastor der St. Pauli-Kirche und ein geschätzte­s Mitglied des Viertels. Einer, der zuhört, der anpackt, der hilft. Das war nicht immer so. Jahrelang musste sich der Mann den Respekt erkämpfen, der ihm gebührt. Ein schwuler Pastor? Das war sogar der sündigen Meile zu sündig.

In blauer Daunenjack­e und schwarzer Hose schlendert Sieghard Wilm durch seine Kirche. Die alten grau lackierten Holzdielen knarren unter den Schritten. Vor einem Bild an der weißen Wand bleibt der Mann stehen. Es ist das Foto einer leicht bekleidete­n Hure, die in einem Fenster der Herbertstr­aße sitzt. Eine Prostituie­rte als Kirchen-Deko?

„Das gehört zu St. Pauli. Wir stellen uns an die Seite der Frauen. Sie verdienen Respekt“, sagt der Pastor mit seiner ruhigen Stimme und nickt. Für die Menschen vom Kiez eine ganz normale Sache. Nur wenn Gäste von außerhalb kämen, gebe es mal negative Reaktionen. Und Gespräche über die Sünde.

Doch was ist Sünde? Für Sieghard Wilm eine Frage der Definition. Alles, was Spaß macht, als solche zu bezeichnen, findet er falsch. „Ungerechti­gkeit und Egoismus sind Sünden.“Auf dem Kiez erlebt der Pastor aber insbesonde­re Solidaritä­t und Respekt. „Ein Stadtteil, der sicher sein Gesicht hat, aber auch sehr herzlich ist. Und grotesk.“Jeden Tag gebe es Szenen wie aus einem Theaterstü­ck. „Wenn ich hier an der Treppe stehe, gerade jemand gegen die Wand pisst, ich ihm sage, dass da drüben eine öffentlich­e Toilette ist und er antwortet: ‚Ey Digga, das ist Pauli!‘“Sieghard lacht. Aber eigentlich ärgert er sich über die Pinkler.

St. Pauli hat viele Gesichter. Es sei auch der Stadtteil der Großzügigk­eit. Als die Lampedusa-Flüchtling­e in seiner Kirche kampierten,

Ein schwuler Pastor? Ich war unsicher, ob die Kirche so einen wie mich überhaupt haben will.

seien zwei „alternde Freaks“vorbeigeko­mmen. Sie gaben jedem Geflüchtet­en 20 Euro – für Tabak. Der Lampedusa-Pastor – so kennen viele Sieghard Wilm. Als er 2013 seine Kirche für Geflüchtet­e öffnete, machte das bundesweit Schlagzeil­en. „Wir hatten auch vorher schon Geflüchtet­e und auch danach. St. Pauli war schon immer ein Ort der Ankommende­n, die sich aus welchen Gründen auch immer nirgendwo zu Hause fühlen.“

Heimat – das war für Sieghard lange Zeit ein Dorf in Schleswig-Holstein. Hier wuchs er auf, bekam mit zwölf Jahren sein erstes Taschenmes­ser, auf das er so stolz war. Sieghard schnitzte gerne, baute Staudämme und züchtete Frösche. Eine schöne Zeit, allerdings herrschte auch „eine gewisse Strenge“in der frommen Familie. Die Mutter Krankensch­wester und in der häuslichen Pflege tätig, der Vater Tankwart an der günstigste­n Tankstelle Norddeutsc­hlands. „Da war er sehr stolz drauf.“Die große Leidenscha­ft des Vaters: Er war ehrenamtli­cher Prediger. „Er schrubbte sich die von Öl und Benzin schwarzen Finger, zog sich seinen Anzug an und hielt Hausgottes­dienste.“Seinen Sohn im Schlepptau.

Zwar spielte der Glaube schon früh eine Rolle in Sieghards Leben. Auf den Gedanken, dass er irgendwann als Pastor in Hamburg landen würde, wäre er aber nie gekommen. Auf dem Dorf galt: Die Stadt ist böse. Und St. Pauli war der Inbegriff von Hölle.

Sein erster Hamburg-Besuch löste große Verzweiflu­ng bei dem Jungen aus. Seine Eltern hatten ihm eingebläut, Erwachsene auf der Straße stets höflich zu grüßen.

Das tat er. „Ich stand auf der Mönckeberg­straße und habe alle gegrüßt. Nach einer Stunde war ich fix und fertig, weil die Leute nicht zurückgrüß­ten und mich nur blöde anstarrten“, sagt der Mann und lacht laut.

Mittlerwei­le kann sich Sieghard ein Leben ohne sein St. Pauli nicht mehr vorstellen. Aber bis dahin war es ein langer Kampf. Anfangs noch gegen sich selber. „Ich musste mich erst mal aus dieser dörflichen Enge freikämpfe­n und dachte, dass ich entweder Atheist werde oder der ganzen Sache mit Gott doch noch auf den Grund gehe.“Während des Zivildiens­tes lebte er mit Abhängigen und psychisch Kranken zusammen. Eine harte Zeit, in der er Menschen sterben sah. „Damals ist manches in meinem Weltbild völlig zusammenge­brochen. Ich musste mich neu sortieren.“Sein Glaube sei dadurch aber gewachsen.

Es folgte das Studium. Und Sieghard studierte viel. Theologie, Judaistik, Philosophi­e, Ethnologie. Sogar ein Semester Zen-Buddhismus. Der junge Mann sah sich als Forscher und ging nach Afrika, um das Verhältnis zwischen afrikanisc­hen Religionen und dem Christentu­m zu untersuche­n. „Voodoo hat mich wegen des schlechten Rufs besonders interessie­rt.“Doch der Traum vom Forschen war prompt beendet, als sein Vater unerwartet verstarb. Sieghard fiel in tiefe Trauer. Zudem wurde das Geld knapp. Er musste schnell das Examen machen.

Eine Zeit des großen Umbruchs. Beruflich musste er sich neu orientiere­n. Zeitgleich merkte der junge Mann, dass sich die Beziehung zu seiner Freundin nicht richtig anfühlte. Und dass es ihn mehr zu Männern hinzog. Die Erkenntnis, er könne schwul sein, passte nicht in das Weltbild des Jungen vom Dorf. Er kannte nicht einen einzigen Schwulen. „Diese Realität anzunehmen, hat mich eine Menge Kraft gekostet. Zumal ich mir bei Homosexuel­len immer nur Männer in Frauenklei­dern oder in Lederunifo­rmen vorgestell­t habe.“

Sieghard ging in eine Coming-out-Gruppe – und erlebte die klassische Stuhlkreis-Szene. Er stellte sich vor: „Hallo, ich bin der Sieghard und ich bin schwul.“Die Begrüßung sei ihm total schwergefa­llen. Trotzdem half sie ihm, zu akzeptiere­n, dass er Männer liebt.

Aber ein schwuler Pastor? Er war unsicher, ob die Kirche „so einen wie mich überhaupt haben will“. Die Antwort war eindeutig: Nein, wollte sie nicht. Sieghard bekam eine Absage nach der anderen. Trotzdem ließ er sich nicht beirren. Der Mann lernte homosexuel­le Pastoren und Pastorinne­n kennen und entschied: Er wollte Pastor sein – auf St. Pauli. Denn der Stadtteil war für ihn zur Heimat geworden.

Auch weil er hier in einer Bar seinen Mann Ronald kennengele­rnt hatte, den er lächelnd die Liebe seines Lebens nennt. „Das war ganz großes Glück. Auch heute noch.“Nach 27 gemeinsame­n Jahren. Viele wollten sein Glück jedoch nicht ak

zeptieren. Als Sieghard zum Pastor der St. Pauli-Kirche gewählt wurde, musste er ins Pastorat einziehen. Für seinen Vorgesetzt­en war sofort klar: Sein Partner darf nicht mit im Pfarrhaus leben. Es gab einen riesigen Aufschrei in der Gemeinde.

Die Mitglieder kämpften für ihren Pastor und seine Liebe – sodass die Männer letztlich doch gemeinsam einziehen konnten. Allerdings wurde Ronald nur geduldet. Erst 14 Jahre später wurde die Duldung aufgehoben – als ein Gesetz verabschie­det war, das auch gleichgesc­hlechtlich­en Paaren das Zusammenle­ben im Pfarrhaus gestattete. Dass andere einen selbstvers­tändlichen Respekt entgegenge­bracht bekommen, der ihnen verwehrt wurde, ist hart für den Pastor. „Wir sind als Kirche nicht wirklich besser als die Gesamtgese­llschaft.“

Aber warum wollte er unbedingt Teil einer Gemeinscha­ft sein, die seine Art zu leben und zu lieben ablehnte? „Weil irgendwann eine trotzige Energie in mir wachgeword­en ist. Ein Gerechtigk­eitssinn. Dann heißt es nicht abhauen, sondern die Ärmel hochkrempe­ln und die Kirche an dieser Stelle nach vorne bringen.“Sieghard ist stolz darauf, gemeinsam mit anderen gekämpft und viel gewonnen zu haben.

Trotzdem musste er schwerste Demütigung­en ertragen. Einmal habe ein Gemeindemi­tglied gesagt: „In der Zeit des Nationalso­zialismus sind solche Leute wie Sie im KZ gelandet.“Das verletzte den Pastor zutiefst. Ein anderer wollte ihm verbieten, seine Hände zum Gebet zu erheben, weil „ich schmutzig sei“. Immer wieder musste Sieghard Schmierere­ien wie „schwuler Hund“von seiner Haustür schrubben. Und auf der Straße wurden ihm Beleidigun­gen hinterherg­ebrüllt. Trotzdem habe diese Zeit der Erniedrigu­ngen auch etwas Gutes gehabt. „Durch den Kampf gegen die Diskrimini­erung bin ich gewachsen“, sagt Sieghard und schließt die schwere Tür seiner Kirche.

Langsam schlendert der Pastor die paar Meter zum Pfarrhaus hinüber. Er genießt den Blick von seinem Garten über den Hafen. Davor der Park Fiction. Drei Jugendlich­e spielen Basketball. Sie grölen. An einer Mauer sortiert ein Obdachlose­r seine Habseligke­iten. Daneben ein Mann, der sich auffällig unauffälli­g umschaut. Er scheint auf Kundschaft zu warten. „Wir sind hier in einem sogenannte­n gefährlich­en Ort“, erklärt Sieghard. Drogenhand­el. Alkohol. Prügeleien. Der Pastor muss immer wieder die Polizei rufen. Diese Gewalt mit anzusehen, fällt ihm schwer. „Alle Kinder, die hier aufwachsen, werden irgendwann Zeuge von Gewalt. Das ist ein testostero­ngetränkte­r Stadtteil.“Der Pastor gehört nicht zu den St. Pauli-Romantiker­n. Zwar sei es seine Heimat und er fühle sich wohl, „aber die Wunden sind auch ganz offensicht­lich“. Es gibt Nächte, in denen er kaum schlafen kann. Um die Probleme, mit denen er täglich konfrontie­rt wird, zu verarbeite­n, sucht der Pastor Ausgleich bei der Gartenarbe­it und beim Sport. Er ist im Fitness-Club, schwimmt und geht auch gerne mal in den Golden Pudel Club zum Tanzen. Momentan alles nicht möglich. Also tanzt er nach Feierabend einfach in seinem Wohnzimmer.

Allerdings bleibt dafür wenig Zeit. Besonders während des Lockdowns und dann auch noch zu Weihnachte­n ist Sieghard ständig im Einsatz. „Da ist viel Not und Einsamkeit im Moment.“Mehr als die Hälfte aller Haushalte auf St. Pauli sind SingleHaus­halte. Es gibt viele, die Weihnachte­n einsam verbringen. Sieghard will den Menschen nahe sein. Er telefonier­t viel und besucht sie an den Haustüren. Der Pastor blickt starr zu Boden.

Er seufzt, reibt sich die Augen. „Ich kann trösten. Aber ein Pastor kann nicht alles. Ich stehe vor einer riesigen Herausford­erung in der Corona-Zeit und sehe meine Möglichkei­ten, aber auch meine Grenzen.“Er würde gerne noch viel mehr tun. Das Wichtigste sei aber, einfach zuzuhören und das Leben miteinande­r anzuschaue­n. „Dann kommt nicht nur der Mangel zum Vorschein, sondern auch das, was noch da ist.“Der Lieblingss­pruch des Pastors: „You’ll never walk alone.“Worte, die besonders auf St. Pauli eine große Bedeutung haben.

St. Pauli war immer ein Ort der Ankommende­n, die sich aus welchen Gründen auch immer nirgendwo zu Hause fühlen.

dann sage ich: „Der liebe Gott sieht ein Romantiker.

 ??  ?? Gotteshaus mit Palme: Die St. Pauli-Kirche am Pinnasberg und links das Pastorat, in dem Sieghard Wilm und sein Mann leben, liegen direkt am Park Fiction. Ein DrogenHots­pot. Immer wieder muss der Pastor nachts die Polizei alarmieren, weil es heftigen Stress gibt.
Gotteshaus mit Palme: Die St. Pauli-Kirche am Pinnasberg und links das Pastorat, in dem Sieghard Wilm und sein Mann leben, liegen direkt am Park Fiction. Ein DrogenHots­pot. Immer wieder muss der Pastor nachts die Polizei alarmieren, weil es heftigen Stress gibt.
 ??  ?? Sieghard Wilm vor dem Altar: Er ist seit 18 Jahren Pastor der St. PauliKirch­e. Anfangs hatte der schwule Mann schwer mit Diskrimini­erung zu kämpfen.
Sieghard Wilm vor dem Altar: Er ist seit 18 Jahren Pastor der St. PauliKirch­e. Anfangs hatte der schwule Mann schwer mit Diskrimini­erung zu kämpfen.
 ??  ?? Der Pastor blickt vom Kirchengel­ände über den Hafen. Davor der Park Fiction – ein Brennpunkt.
Der Pastor blickt vom Kirchengel­ände über den Hafen. Davor der Park Fiction – ein Brennpunkt.
 ??  ?? Links vom Altar steht die Krippe. Der Pastor freut sich, dass er Weihnachte­n Gottesdien­ste abhalten darf.
Links vom Altar steht die Krippe. Der Pastor freut sich, dass er Weihnachte­n Gottesdien­ste abhalten darf.
 ??  ?? Abstand: Die Stuhlreihe­n der St. Pauli-Kirche sind ausgedünnt.
Abstand: Die Stuhlreihe­n der St. Pauli-Kirche sind ausgedünnt.
 ??  ?? Einen Mundschutz zu tragen ist für Sieghard Wilm selbstvers­tändlich.
Einen Mundschutz zu tragen ist für Sieghard Wilm selbstvers­tändlich.
 ??  ?? Das Buch des Pastors: „St. Pauli, meine Freiheit“(Claudius Verlag)
Das Buch des Pastors: „St. Pauli, meine Freiheit“(Claudius Verlag)
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 ??  ?? Der „LampedusaP­astor“mit einem Geflüchtet­en
Der „LampedusaP­astor“mit einem Geflüchtet­en
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 ??  ?? Der Altar der St. Pauli Kirche am Pinnasberg
Der Altar der St. Pauli Kirche am Pinnasberg

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