DER PAULI-PASTOR
Sieghard Wilm ist „Kiezmensch“, Seelsorger, Clubgänger:
Sieghard Wilm und St. Pauli – das ist eine große Liebesgeschichte. Keine romantische, über die Jahre verklärte. Es ist eine ehrliche Liebe. Voller Zuneigung, Respekt und Zusammenhalt. Aber auch voller Zweifel, Ablehnung – ja, sogar Hass. Sieghard Wilm (55) ist seit 18 Jahren Pastor der St. Pauli-Kirche und ein geschätztes Mitglied des Viertels. Einer, der zuhört, der anpackt, der hilft. Das war nicht immer so. Jahrelang musste sich der Mann den Respekt erkämpfen, der ihm gebührt. Ein schwuler Pastor? Das war sogar der sündigen Meile zu sündig.
In blauer Daunenjacke und schwarzer Hose schlendert Sieghard Wilm durch seine Kirche. Die alten grau lackierten Holzdielen knarren unter den Schritten. Vor einem Bild an der weißen Wand bleibt der Mann stehen. Es ist das Foto einer leicht bekleideten Hure, die in einem Fenster der Herbertstraße sitzt. Eine Prostituierte als Kirchen-Deko?
„Das gehört zu St. Pauli. Wir stellen uns an die Seite der Frauen. Sie verdienen Respekt“, sagt der Pastor mit seiner ruhigen Stimme und nickt. Für die Menschen vom Kiez eine ganz normale Sache. Nur wenn Gäste von außerhalb kämen, gebe es mal negative Reaktionen. Und Gespräche über die Sünde.
Doch was ist Sünde? Für Sieghard Wilm eine Frage der Definition. Alles, was Spaß macht, als solche zu bezeichnen, findet er falsch. „Ungerechtigkeit und Egoismus sind Sünden.“Auf dem Kiez erlebt der Pastor aber insbesondere Solidarität und Respekt. „Ein Stadtteil, der sicher sein Gesicht hat, aber auch sehr herzlich ist. Und grotesk.“Jeden Tag gebe es Szenen wie aus einem Theaterstück. „Wenn ich hier an der Treppe stehe, gerade jemand gegen die Wand pisst, ich ihm sage, dass da drüben eine öffentliche Toilette ist und er antwortet: ‚Ey Digga, das ist Pauli!‘“Sieghard lacht. Aber eigentlich ärgert er sich über die Pinkler.
St. Pauli hat viele Gesichter. Es sei auch der Stadtteil der Großzügigkeit. Als die Lampedusa-Flüchtlinge in seiner Kirche kampierten,
Ein schwuler Pastor? Ich war unsicher, ob die Kirche so einen wie mich überhaupt haben will.
seien zwei „alternde Freaks“vorbeigekommen. Sie gaben jedem Geflüchteten 20 Euro – für Tabak. Der Lampedusa-Pastor – so kennen viele Sieghard Wilm. Als er 2013 seine Kirche für Geflüchtete öffnete, machte das bundesweit Schlagzeilen. „Wir hatten auch vorher schon Geflüchtete und auch danach. St. Pauli war schon immer ein Ort der Ankommenden, die sich aus welchen Gründen auch immer nirgendwo zu Hause fühlen.“
Heimat – das war für Sieghard lange Zeit ein Dorf in Schleswig-Holstein. Hier wuchs er auf, bekam mit zwölf Jahren sein erstes Taschenmesser, auf das er so stolz war. Sieghard schnitzte gerne, baute Staudämme und züchtete Frösche. Eine schöne Zeit, allerdings herrschte auch „eine gewisse Strenge“in der frommen Familie. Die Mutter Krankenschwester und in der häuslichen Pflege tätig, der Vater Tankwart an der günstigsten Tankstelle Norddeutschlands. „Da war er sehr stolz drauf.“Die große Leidenschaft des Vaters: Er war ehrenamtlicher Prediger. „Er schrubbte sich die von Öl und Benzin schwarzen Finger, zog sich seinen Anzug an und hielt Hausgottesdienste.“Seinen Sohn im Schlepptau.
Zwar spielte der Glaube schon früh eine Rolle in Sieghards Leben. Auf den Gedanken, dass er irgendwann als Pastor in Hamburg landen würde, wäre er aber nie gekommen. Auf dem Dorf galt: Die Stadt ist böse. Und St. Pauli war der Inbegriff von Hölle.
Sein erster Hamburg-Besuch löste große Verzweiflung bei dem Jungen aus. Seine Eltern hatten ihm eingebläut, Erwachsene auf der Straße stets höflich zu grüßen.
Das tat er. „Ich stand auf der Mönckebergstraße und habe alle gegrüßt. Nach einer Stunde war ich fix und fertig, weil die Leute nicht zurückgrüßten und mich nur blöde anstarrten“, sagt der Mann und lacht laut.
Mittlerweile kann sich Sieghard ein Leben ohne sein St. Pauli nicht mehr vorstellen. Aber bis dahin war es ein langer Kampf. Anfangs noch gegen sich selber. „Ich musste mich erst mal aus dieser dörflichen Enge freikämpfen und dachte, dass ich entweder Atheist werde oder der ganzen Sache mit Gott doch noch auf den Grund gehe.“Während des Zivildienstes lebte er mit Abhängigen und psychisch Kranken zusammen. Eine harte Zeit, in der er Menschen sterben sah. „Damals ist manches in meinem Weltbild völlig zusammengebrochen. Ich musste mich neu sortieren.“Sein Glaube sei dadurch aber gewachsen.
Es folgte das Studium. Und Sieghard studierte viel. Theologie, Judaistik, Philosophie, Ethnologie. Sogar ein Semester Zen-Buddhismus. Der junge Mann sah sich als Forscher und ging nach Afrika, um das Verhältnis zwischen afrikanischen Religionen und dem Christentum zu untersuchen. „Voodoo hat mich wegen des schlechten Rufs besonders interessiert.“Doch der Traum vom Forschen war prompt beendet, als sein Vater unerwartet verstarb. Sieghard fiel in tiefe Trauer. Zudem wurde das Geld knapp. Er musste schnell das Examen machen.
Eine Zeit des großen Umbruchs. Beruflich musste er sich neu orientieren. Zeitgleich merkte der junge Mann, dass sich die Beziehung zu seiner Freundin nicht richtig anfühlte. Und dass es ihn mehr zu Männern hinzog. Die Erkenntnis, er könne schwul sein, passte nicht in das Weltbild des Jungen vom Dorf. Er kannte nicht einen einzigen Schwulen. „Diese Realität anzunehmen, hat mich eine Menge Kraft gekostet. Zumal ich mir bei Homosexuellen immer nur Männer in Frauenkleidern oder in Lederuniformen vorgestellt habe.“
Sieghard ging in eine Coming-out-Gruppe – und erlebte die klassische Stuhlkreis-Szene. Er stellte sich vor: „Hallo, ich bin der Sieghard und ich bin schwul.“Die Begrüßung sei ihm total schwergefallen. Trotzdem half sie ihm, zu akzeptieren, dass er Männer liebt.
Aber ein schwuler Pastor? Er war unsicher, ob die Kirche „so einen wie mich überhaupt haben will“. Die Antwort war eindeutig: Nein, wollte sie nicht. Sieghard bekam eine Absage nach der anderen. Trotzdem ließ er sich nicht beirren. Der Mann lernte homosexuelle Pastoren und Pastorinnen kennen und entschied: Er wollte Pastor sein – auf St. Pauli. Denn der Stadtteil war für ihn zur Heimat geworden.
Auch weil er hier in einer Bar seinen Mann Ronald kennengelernt hatte, den er lächelnd die Liebe seines Lebens nennt. „Das war ganz großes Glück. Auch heute noch.“Nach 27 gemeinsamen Jahren. Viele wollten sein Glück jedoch nicht ak
zeptieren. Als Sieghard zum Pastor der St. Pauli-Kirche gewählt wurde, musste er ins Pastorat einziehen. Für seinen Vorgesetzten war sofort klar: Sein Partner darf nicht mit im Pfarrhaus leben. Es gab einen riesigen Aufschrei in der Gemeinde.
Die Mitglieder kämpften für ihren Pastor und seine Liebe – sodass die Männer letztlich doch gemeinsam einziehen konnten. Allerdings wurde Ronald nur geduldet. Erst 14 Jahre später wurde die Duldung aufgehoben – als ein Gesetz verabschiedet war, das auch gleichgeschlechtlichen Paaren das Zusammenleben im Pfarrhaus gestattete. Dass andere einen selbstverständlichen Respekt entgegengebracht bekommen, der ihnen verwehrt wurde, ist hart für den Pastor. „Wir sind als Kirche nicht wirklich besser als die Gesamtgesellschaft.“
Aber warum wollte er unbedingt Teil einer Gemeinschaft sein, die seine Art zu leben und zu lieben ablehnte? „Weil irgendwann eine trotzige Energie in mir wachgeworden ist. Ein Gerechtigkeitssinn. Dann heißt es nicht abhauen, sondern die Ärmel hochkrempeln und die Kirche an dieser Stelle nach vorne bringen.“Sieghard ist stolz darauf, gemeinsam mit anderen gekämpft und viel gewonnen zu haben.
Trotzdem musste er schwerste Demütigungen ertragen. Einmal habe ein Gemeindemitglied gesagt: „In der Zeit des Nationalsozialismus sind solche Leute wie Sie im KZ gelandet.“Das verletzte den Pastor zutiefst. Ein anderer wollte ihm verbieten, seine Hände zum Gebet zu erheben, weil „ich schmutzig sei“. Immer wieder musste Sieghard Schmierereien wie „schwuler Hund“von seiner Haustür schrubben. Und auf der Straße wurden ihm Beleidigungen hinterhergebrüllt. Trotzdem habe diese Zeit der Erniedrigungen auch etwas Gutes gehabt. „Durch den Kampf gegen die Diskriminierung bin ich gewachsen“, sagt Sieghard und schließt die schwere Tür seiner Kirche.
Langsam schlendert der Pastor die paar Meter zum Pfarrhaus hinüber. Er genießt den Blick von seinem Garten über den Hafen. Davor der Park Fiction. Drei Jugendliche spielen Basketball. Sie grölen. An einer Mauer sortiert ein Obdachloser seine Habseligkeiten. Daneben ein Mann, der sich auffällig unauffällig umschaut. Er scheint auf Kundschaft zu warten. „Wir sind hier in einem sogenannten gefährlichen Ort“, erklärt Sieghard. Drogenhandel. Alkohol. Prügeleien. Der Pastor muss immer wieder die Polizei rufen. Diese Gewalt mit anzusehen, fällt ihm schwer. „Alle Kinder, die hier aufwachsen, werden irgendwann Zeuge von Gewalt. Das ist ein testosterongetränkter Stadtteil.“Der Pastor gehört nicht zu den St. Pauli-Romantikern. Zwar sei es seine Heimat und er fühle sich wohl, „aber die Wunden sind auch ganz offensichtlich“. Es gibt Nächte, in denen er kaum schlafen kann. Um die Probleme, mit denen er täglich konfrontiert wird, zu verarbeiten, sucht der Pastor Ausgleich bei der Gartenarbeit und beim Sport. Er ist im Fitness-Club, schwimmt und geht auch gerne mal in den Golden Pudel Club zum Tanzen. Momentan alles nicht möglich. Also tanzt er nach Feierabend einfach in seinem Wohnzimmer.
Allerdings bleibt dafür wenig Zeit. Besonders während des Lockdowns und dann auch noch zu Weihnachten ist Sieghard ständig im Einsatz. „Da ist viel Not und Einsamkeit im Moment.“Mehr als die Hälfte aller Haushalte auf St. Pauli sind SingleHaushalte. Es gibt viele, die Weihnachten einsam verbringen. Sieghard will den Menschen nahe sein. Er telefoniert viel und besucht sie an den Haustüren. Der Pastor blickt starr zu Boden.
Er seufzt, reibt sich die Augen. „Ich kann trösten. Aber ein Pastor kann nicht alles. Ich stehe vor einer riesigen Herausforderung in der Corona-Zeit und sehe meine Möglichkeiten, aber auch meine Grenzen.“Er würde gerne noch viel mehr tun. Das Wichtigste sei aber, einfach zuzuhören und das Leben miteinander anzuschauen. „Dann kommt nicht nur der Mangel zum Vorschein, sondern auch das, was noch da ist.“Der Lieblingsspruch des Pastors: „You’ll never walk alone.“Worte, die besonders auf St. Pauli eine große Bedeutung haben.
St. Pauli war immer ein Ort der Ankommenden, die sich aus welchen Gründen auch immer nirgendwo zu Hause fühlen.
dann sage ich: „Der liebe Gott sieht ein Romantiker.