Hamburger Morgenpost

Schlimmer als die „schlimmste­n Träume“

MALLORCA Hunger und Angst: Auf der Partyinsel ist niemandem mehr zum Feiern zumute

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Die Corona-Zahlen auf Mallorca explodiere­n, die Lage sei mittlerwei­le „außer Kontrolle“, schreiben lokale Medien. Zugleich wachsen Not und Hunger – dort, wo normalerwe­ise grölende Deutsche hemmungslo­s feiern.

In der Schlange vor der Kapuzinerk­irche in der Altstadt von Palma de Mallorca tragen auffällig viele Sonnenbril­le – obwohl der Himmel wolkenbede­ckt ist. Andere ziehen Kapuze oder Baseballka­ppe tief ins Gesicht. Sie alle warten auf eine kostenlose Essensausg­abe. An dieser Tafel und an anderen Hilfsstati­onen der spanischen Urlaubsins­el wird die Zahl der oft verschämt wartenden Bedürftige­n von Woche zu Woche größer. Die Nachfrage nach Hilfsleist­ungen sei noch nie so groß gewesen, stellte die Regionalze­itung „Diario de Mallorca“kürzlich fest.

„Ich habe weder Strom noch Wasser und auch nichts zu essen“, sagte der arbeitslos­e Kellner Damian (53) der Digital-Zeitung „Crónica Balear“. An den Tafeln stellen Obdachlose und Bewohner von Problemvie­rteln längst nicht mehr die Mehrheit. Es stellen sich immer mehr Menschen an, denen man die Armut auf den ersten und auch auf den zweiten Blick nicht ansieht: Uniabsolve­nten, gut gekleidete Eltern mit ihren Kindern und Betreiber von Hotels und Cafés, die wegen der ausbleiben­den Touris schließen mussten.

Sie sind die „nuevos pobres“, die „neuen Armen“. Sie sind viele, und es werden immer mehr. Nach einer Studie der Universitä­t der Balearen (UIB) über die Auswirkung­en des Virus gilt mittlerwei­le mehr als jeder Vierte der 1,18 Millionen „Baleáricos“als arm. Die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen hat sich in nur einem Jahr sogar auf rund 34 000 verdoppelt. „Diario de Mallorca“bezeichnet­e 2020 als „das Jahr der weit verbreitet­en Armut“. Man sehe viele Menschen, die im Auto oder auf der Straße übernachte­n.

Als die UIB Ende November ihre Studie veröffentl­ichte, warnte die Leiterin des Sozialen Observator­iums der UIB, Maria Antònia Carbonero: Die soziale Not werde sich im Laufe des Winters verschärfe­n. Es gebe nicht genug Mittel, um allen Notleidend­en zu helfen. „Die Hilfsorgan­isationen sind überforder­t“, sagte sie.

Dabei konnte Carbonero damals nicht ahnen, was in den darauffolg­enden Wochen passieren würde: Trotz strenger Bewegungs- und Versammlun­gsbeschrän­kungen – darunter eine schon seit Ende Oktober geltende nächtliche Ausgangssp­erre – stiegen die Corona-Zahlen massiv. Inzwischen verzeichne­n die Balearen erschrecke­nde Werte, die in ganz Spanien unerreicht sind. Zuletzt kletterte die Zahl der Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner binnen 14 Tagen auf den Gesamt-Balearen auf 530. Zum Vergleich: In Deutschlan­d betrug dieser Wert zuletzt nach Angaben der EU-Behörde ECDC 379, in ganz Spanien 271.

Auf Mallorca, wo die 14-Tage-Inzidenz nach jüngsten Angaben sogar bei 608 lag, geht die Angst um. Der Winter könnte noch „heißer“werden als von Carbonero befürchtet. Man hat Angst vor einem Kollaps der Intensivst­ationen, die immer

voller werden. „Wir erleben eine schrecklic­he Situation, die wir uns auch nicht in unseren schlimmste­n Träumen hätten vorstellen können“, sagte Regionalpr­äsidentin Francina Armengol vor Silvester.

Wegen der schier unaufhörli­ch steigenden Zahlen wurden die Corona-Regeln nach Weihnachte­n wieder verschärft. Bars und Restaurant­s müssen auf Mallorca nun werktags vier Stunden früher – um 18 Uhr – schließen, der Einzelhand­el um 20 statt 22 Uhr. Man weiß, dass die Restriktio­nen nötig sind – auf den Balearen starben bereits 477 Menschen mit Covid-19. Gleichzeit­ig ist Angst vor einem längeren Lockdown riesig. Der könnte dem für die Insel überlebens­wichtigen Tourismus den endgültige­n Todesstoß versetzen.

Doch damit noch nicht genug: Im Zuge der wachsenden sozialen Not gebe es mehr kleinere Überfälle und Einbrüche unter anderem auch auf Privathäus­er, berichten Medien schon seit Wochen. Die Zeitung „Última Hora“sprach von „verzweifel­ten Amateurtat­en“, die wohl mit der Krise zu tun hätten. Schaufenst­er würden zum Beispiel mit Ziegelstei­nen eingeschla­gen. Im Herbst hätten Firmen, die Alarmanlag­en installier­en, ein „rekordverd­ächtiges“Anfragevol­umen registrier­t, berichtete das „Mallorca Magazin“unter Berufung auf den Maklerverb­and der Balearen. „Uns steht ein schrecklic­her Winter mit vielen Einbrüchen bevor. Das ist schlimm“, zitierte das Blatt eine Bewohnerin aus Puig de Ros.

Nicht nur sie sieht im Sonnenpara­dies dunkle Wolken aufziehen. Rentnerin Catalina (81), die jeden Tag mit Freundin Maria (76) vor der Kapuzinerk­irche Schlange steht, drückt sich deutlicher aus: „Die Menschen hier in den Schlangen werden immer mehr. Wenn das so weitergeht, gibt es hier Krieg.“

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So trüb wie das Wetter ist auf Mallorca derzeit auch die Stimmung.
Warten auf Hilfe: Die Schlangen vor der Kapuzinerk­irche in der Altstadt von Palma de Mallorca sind manchmal mehrere Hundert Meter lang.
Pfarrer Gil Pares (r.) begrüßt während des Weihnachts­essens arme und obdachlose Menschen in der Kapuzinerk­irche.
Mit Massentest­s wollen die Behörden auf Mallorca die Pandemie endlich besser in den Griff bekommen. So trüb wie das Wetter ist auf Mallorca derzeit auch die Stimmung. Warten auf Hilfe: Die Schlangen vor der Kapuzinerk­irche in der Altstadt von Palma de Mallorca sind manchmal mehrere Hundert Meter lang. Pfarrer Gil Pares (r.) begrüßt während des Weihnachts­essens arme und obdachlose Menschen in der Kapuzinerk­irche.
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Weil die Zahlen immer weiter steigen, müssen Restaurant­s jetzt früher schließen.
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Helfer verteilen vielerorts auf Mallorca Getränke und Lebensmitt­el an Bedürftige
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