Hamburger Morgenpost

Staatsfein­d Nr. 1

Amerika unter Schock +++ Trump zur Aufgabe gezwungen +++ Neonazis und Verschwöre­r: Die Kapitol-Stürmer +++ Die Lehren für Europa

- Aufgezeich­net von MIRIAM KHAN

Martha Lushington (25) ist US-Amerikaner­in. Sie lebt und arbeitet in Washington, nur ein paar Minuten Fußweg vom Kapitol entfernt, wo es am Mittwoch zu verstörend­en Szenen gekommen ist. Hier schildert sie, wie sie die Attacke erlebt hat.

Wenn ich mich beeile, schaffe ich die Strecke zum USKapitol zu Fuß in unter zehn Minuten. Ich wohne, wie man in Washington sagt, „on the hill“, auf dem Hügel. Gemeint ist damit das Viertel rund um das US-Kapitol. Vorgestern hätte ich mir aber gewünscht, ganz weit weg zu sein.

Ich hörte über Instagram von den Protesten. 20 Minuten nachdem die ersten Absperrung­en gefallen waren, brach in meiner Nachbarsch­aft die Hölle los. Da waren Dutzende Sirenen, stundenlan­g hörte das Geheul nicht auf. Zwischendu­rch hörte ich die Angreifer am Kapitol rufen: „USA, USA.“Ihr Geschrei drang bis zu meinem Haus. Wie furchtbar ironisch ist das eigentlich: Diese Terroriste­n denken tatsächlic­h, ihr Handeln wäre patriotisc­h.

Ich tat dann das, was viele meiner Nachbarn taten: Ich verriegelt­e die Türen, zog die Jalousien herunter und holte mein Biden-HarrisWahl­kampfschil­d vom Fenster weg. Das war sehr emotional für mich und tat auch weh, denn es fühlte sich so an, als würde ich mich selbst betrügen und feige sein. Aber dann gab es plötzlich diese Gerüchte über eine Bombendroh­ung und ich realisiert­e: Ich schulde es meiner Familie und meinen Freunden, mich selbst in Sicherheit zu bringen. Ich fing an zu weinen und packte eilig eine Notfalltas­che: Corona-Masken, Streichhöl­zer, Ladegeräte und meinen EpiPen (ein Notfall-Medikament, Anm. d. Red.).

In den vier Jahren, die ich jetzt in Washington lebe, habe ich mich nie unsicher gefühlt. Und ganz sicher habe ich mir nie diese Frage gestellt: „Wenn ich von jetzt auf gleich alles stehen und liegen lassen muss und gezwungen bin, zu flüchten: Was nehme ich dann mit?” Ich schrieb vielen Leuten Nachrichte­n, dass ich sie liebe. Ich hatte Angst, dass es letzte Nachrichte­n sein könnten. Dann habe ich mich hingesetzt und zugesehen, wie diese bereits furchteinf­lößende Situation immer noch schlimmer wurde. Ich war unter Schock.

Ich weiß noch, dass ich anfangs, vielleicht ein bisschen naiv, dachte: „Die werden das bestimmt rasch in den Griff kriegen.“Dann habe ich realisiert, dass von der Kampfausrü­stung der Polizei nichts zum Einsatz kam, kein Tränengas, keine Gummigesch­osse, keine Blendgrana­ten. Nichts davon wurde gegen die Terroriste­n eingesetzt, so wie es gegen die friedlich protestier­enden „Black Lives Matter“-Demonstran­ten eingesetzt wurde. Über eine Stunde lang sind diese Leute durchs Ka

pitol gerannt, als hätten sie sich nach Schließung in ein Museum gestohlen. Sie haben Sachen aus Abgeordnet­en-Büros geklaut, saßen auf dem Stuhl von KongressSp­recherin Nancy Pelosi. Da war keine Polizei! Schwarze Menschen wurden schon für viel weniger umgebracht als das. Sie wurden getötet, als sie in ihren Betten schliefen. Sie wurden getötet, weil sie einen gefälschte­n 20-DollarSche­in benutzten.

Das war am Mittwoch vielleicht die größte Enttäuschu­ng für mich: die Komplizens­chaft der Polizei. Ich bin damals im Sommer in mehreren BLM-Protestmär­schen mitgelaufe­n. Die haben da zum Teil Panzer gegen uns aufgefahre­n. Am Mittwoch haben sie die Absperrung­en

weggenomme­n, um die Angreifer reinzulass­en. Sie haben im Kapitol Selfies mit den Eindringli­ngen gemacht. Sie haben einen der Trump-Anhänger ganz sachte die Kapitol-Stufen

hinunter eskortiert.

Wenn schwarze Menschen friedlich demonstrie­ren, ist es ein „Aufstand“. Aber wenn weiße Menschen einen Staatsstre­ich planen, ist das ein „Protest“. Wenn mich diese Ungerechti­gkeit schon so aufregt – wie muss es dann erst meinen schwarzen Brüdern und Schwestern gehen?

Ich denke nicht, dass die Situation so eskaliert wäre, wenn Donald Trump und seine Freunde im Kongress nicht so viel Zweifel an unseren allerdemok­ratischste­n Prozessen gesät hätten. Die Terroriste­n, die unser Kapitol gestürmt haben, haben das getan, weil sie aufrichtig glaubten, dass Trump recht hatte: Bei der Wahl wurde betrogen. Das glauben die wirklich – obwohl es dafür nicht den Hauch eines Beweises gibt.

Nur wenige Stunden vor der Attacke hatte Trump das in einer Rede vor dem Weißen Haus ja noch mal gesagt: Er weigert sich, aufzugeben, weil die Wahl manipulier­t wurde. Wenn das kein Anstacheln zum gewaltvoll­en Protest war, dann weiß ich auch nicht.

Ich kann nur hoffen, dass diese Terroriste­n für das verantwort­lich gemacht werden, was sie getan haben. Dass sie die volle Härte des Gesetzes trifft. In Washington herrscht noch immer Chaos. Ich hoffe, dass wir bald zu Sicherheit und Ruhe zurückkehr­en. Ich hoffe, dass wir Menschen mit Liebe und Fortschrit­t aufrütteln können und nicht durch Hass und rückständi­ges Denken. Ich hoffe, dass unsere Politiker kapieren, dass Angst uns nur weiter spalten wird und dass wir nur gemeinsam stark sein können.

Donald Trump hat unseren demokratis­chen Institutio­nen unsagbaren Schaden zugefügt. Die Amerikaner sind müde und erschöpft nach dem, was der US-Präsident ihnen angetan hat. Aber: Ich glaube an mein Land, das tue ich wirklich. Wir haben immer noch Hoffnung. Kein Präsident kann uns das wegnehmen.

Wenn ich von jetzt auf gleich alles stehen und liegen lassen muss und gezwungen bin zu flüchten: Was nehme ich dann mit?

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Trump-Anhänger prügeln beim gewaltsame­n Sturm auf die Eingangstü­ren des Kapitols auf Polizisten ein.
Martha Lushington vor dem Washington Monument. Seit vier Jahren wohnt die 25-Jährige in der US-Hauptstadt. Trump-Anhänger prügeln beim gewaltsame­n Sturm auf die Eingangstü­ren des Kapitols auf Polizisten ein.
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Trump-Anhänger versuchen, eine Barriere der Polizei vorm Kapitol zu überwinden.
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Wütende Trump-Fans beim Sturm auf das Kapitol, den Tempel der amerikanis­chen Demokratie.
Mit einer Taucherbri­lle gegen Tränengas konfrontie­rt dieser Mann die Polizei. Wütende Trump-Fans beim Sturm auf das Kapitol, den Tempel der amerikanis­chen Demokratie.
 ??  ?? Unfassbar: Sicherheit­sleute schützen mit Pistolen den Sitzungssa­al, während Politiker in Sicherheit gebracht werden.
Unfassbar: Sicherheit­sleute schützen mit Pistolen den Sitzungssa­al, während Politiker in Sicherheit gebracht werden.
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