BARBIER VON ST. PAULI
Franz Stenzel (76) macht sogar Uwe Seeler die Haare schön
Franz Stenzel liebt die alten Geschichten. Von Zuhältern, die standesgemäß im Lamborghini vorfuhren. Stundenlang mit Lockenwicklern im Haar in seinem Keller hockten. Und bündelweise Geldscheine aus der Tasche zogen. Die Luxus-Schlitten vor seinem Laden sind längst Geschichte. Die Luden auch. Doch Franz ist da. Noch immer. Ein ruhiges Rentnerdasein? Das ist nichts für den 76-Jährigen. Er braucht es bunt und laut. Und so fachsimpelt der Mann mit der roten Brille und dem Schnauzer nach wie vor mit seinen Kunden über Politik, analysiert Fußballspiele und schneidet nebenbei Haare und Bärte. Franz Stenzel ist der „Barbier von St. Pauli“und Chef des ältesten Herrenfriseurs auf dem Kiez. Schon die Beatles ließen sich im 1906 eröffneten „Salon Harry“an der Davidstraße ihre Pilzköpfe schneiden.
Klar, die Geschichte der Pilzköpfe hat Franz bereits hunderte Male erzählt. Aber er berichtet sie noch immer gern – voller Zurückhaltung, da er ja damals gar nicht dabei gewesen sei. Es war 1962, als die Fotografin Astrid Kirchherr Bilder der Beatles auf dem Dom machen sollte. Die Musiker trugen ElvisTolle. „Sie hatten nicht viel Geld und sich die Haare ein Jahr lang nicht schneiden lassen“, sagt Franz schmunzelnd. Deshalb musste die
Fotografin selber ran. Sie war es, die den Beatles die Pilzköpfe verpasste. Allerdings hatte die Frau nur eine Nagelschere. Das Ergebnis: Eine Vollkatastrophe – urteilte zumindest der Manager und „Star-Club“-Geschäftsführer Horst Fascher und schleifte die Jungs zu seinem eigenen Friseur. Chef Harry war es, der den Beatles die Pilzköpfe in Form brachte.
Eine legendäre Geschichte, auf die Franz stolz ist. Und die er bis heute pflegt. Über Regalen mit Handtüchern, Anti-SchuppenShampoos und Haarwachs hängen Schallplatten und Porträts der Musiker in Gold glänzenden Rahmen. Beatles-Figuren und Bücher stehen im Schaufenster des kleinen Salons. Franz’ ganzer Stolz: Im Keller hat er noch die Waschbecken und Stühle, auf denen die Pilzköpfe ihre Frisuren bekamen. Einen hat Manager Horst Fascher sogar signiert. Heute ist der fensterlose, etwas angestaubte Raum ein Museum. Und es erinnert nicht nur an die Pilzköpfe. Die bunten Lockenwickler in dem silbernen Rollwagen und die knapp 20 Jahre alten Juwelier-Zeitschriften mit den damals angesagtesten Uhren erinnern an die Zeit, als die Kundschaft größtenteils aus Zuhältern bestand. Für ihre Miniplis harrten die bulligen Typen stundenlang
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Heute ist es langweilig auf dem Kiez. Wir hatten früher so eine Vielfalt an Geschäften. Alles weg.
Franz Stenzel
mit Lockenwicklern im Haar im Keller aus.
Stefan Hentschel, „Dakota-Uwe“, der „Schöne Mischa“, Walter „Beatle“Vogeler – für Franz und seine Lebensgefährtin Ute Bickeleit (58) nicht bloß Namen aus irgendwelchen alten MilieuGeschichten. Sie kannten die Kiez-Paten. „Wir haben in unserem Keller schon alle Luden des Kiezes mit Dauerwellenwicklern und Strähnchenhaube gesehen“, sagt Ute, die den Salon gemeinsam mit Franz betreibt. Die beiden erlebten die Machtkämpfe im Milieu. Die Zeiten, als Schießereien noch an der Tagesordnung waren. Und obwohl die Mitglieder der berüchtigten ZuhälterTruppen Nutella-Bande und GMBH in den 80er Jahren bei ihnen ein- und ausgingen, hätten sie nichts davon mitbekommen. „Das haben die alles unter sich ausgemacht. Aber wir hatten sie alle hier. Täter und Opfer“, sagt Ute. Die Zuhälter plauderten über ihre Kinder und Hunde. Über Uhren und Autos. Egal welcher Klatsch und Tratsch – Franz und Ute waren immer auf dem neuesten Stand. „Aber wir verraten nichts Persönliches über unsere Kunden. Es gehört zu St. Pauli, dass man dichthält.“
Was Ute allerdings besonders in Erinnerung geblieben ist: Es gab immer ein dickes Trinkgeld für die Friseurin und ihre Kolleginnen. Dann zogen die Zuhälter ihre Geldbündel aus der Tasche. „Eine Dauerwelle kostete 120 Mark und wir Mädels haben oft auch mal 100 Mark Trinkgeld bekommen. Das war eine Menge Geld.“Auch zu Weihnachten gab es „als Geschenk“mal einen Hunderter extra.
Das Geld eines Zuhälters anzunehmen – damit hatte Ute kein Problem. „Natürlich steckte da eine andere Welt hinter, aber ich habe das als junges Mädchen nicht so wahrgenommen. Hauptsache, ich hatte gutes Trinkgeld.“Und die Luden seien immer höflich und nett gewesen. Selbst, als einer der Friseure dem Luden „Mokka“mit der Schere ins Ohr schnitt. „Da war das Ohrläppchen fast ab. Aber der Zuhälter blieb völlig ruhig. Er hat nichts gesagt.“Und kam wieder.
Mit dem Ende der Miniplis blieben auch die Zuhälter weg. Der Kiez wandelte sich. Vom harten Rotlichtviertel zur Amüsiermeile. Früher sei es eine einzige Dauerparty gewesen. „Heute ist es langweilig. Wir hatten hier so eine Vielfalt an Geschäften. Das ist alles weg.“Franz und Ute bekommen nur noch wenig von den Feiernden mit. Außer samstagmorgens. Da stolpern gerne mal Betrunkene in den Laden und wollen sich die Haare machen lassen. „Aber wenn die zu besoffen sind, machen wir das nicht“, sagt Ute. Da ist sie streng. Und auch Junggesellenabschiede weist sie regelmäßig ab. Einmal rief ein Mann an und fragte, ob sein Freund einen Kahlkopf bekommen könnte. Ute war skeptisch, sagte aber zu. „Der Mann hatte den Kopf voller Rasierschaum, als er hier reinkam.“Seine Freunde wollten ihm mit einem Einwegrasierer eine Glatze verpassen. „Der hatte eine unheimliche Wunde am Kopf. Da fehlten ein paar Zentimeter Haut. Wir haben ihn erst mal verarztet“, sagt Ute sauer. Die Frau mit den blond gefärbten Haaren schüttelt den Kopf, als könne sie die Geschichte auch nach Jahren noch immer nicht fassen. „Das war überhaupt nicht lustig. Der ist bestimmt im Krankenhaus gelandet und nicht auf dem Standsamt.“Das sei aber die einzige Situation gewesen, die aus dem Ruder gelaufen ist.
Normalerweise geht es entspannt zu. „Wir nehmen uns Zeit für die Kunden“, sagt Franz. Für Utes Geschmack manchmal etwas viel Zeit. Dann beendet sie die endlosen Fußball-Debatten ihres Mannes mit einem Tritt gegen sein Bein. „Franz ist der Künstler und ich verdiene das Geld“, sagt die Frau lachend. Heute kommen viele Geschäftsleute und Touristen. Auch Prominente wie Willi Bartels, Uwe Seeler, Tim Mälzer und Corny Littmann waren schon im Salon. Und verewigten sich in den beiden prall gefüllten Gästebüchern des Friseurs. Franz zieht ein Album aus dem dunklen Holzregal und zeigt stolz die Einträge mit Fotos und Zeichnungen – sogar chinesische Schriftzeichen sind dabei. Er blättert mit der linken Hand. Darauf ein verblasstes Anker-Tattoo. „Das hat mir vor sehr langer Zeit mal ein Freund gemacht. Nicht so schön“, sagt der 76-Jährige lachend.
„Allerdings“, kommentiert Ute trocken und verdreht lächelnd die Augen.
Dass Franz überhaupt in Hamburg gelandet ist – reiner Zufall. Der Mann wuchs mit elf Geschwistern im polnischen Danzig auf. Nachdem er seinen Friseurmeister gemacht hatte, lebte er kurzzeitig mit seiner Ex-Frau und den beiden Kindern in Bonn und schnitt Politikern im Bundeshaus die Haare.
Wir haben in unserem Keller schon alle Luden des Kiezes mit Dauerwellenwicklern und Strähnchenhaube gesehen. Ute Bickeleit
Aber das Wetter gefiel ihm nicht. „Da war es immer heiß. Ich war andauernd müde.“Also entschied Franz 1978: Er möchte ans Meer ziehen. Auf der Landkarte guckte er sich kurzerhand Kiel aus und fuhr mit seiner Ex-Frau los. „Wir hatten so viel gequatscht, dass ich mich verfuhr.“Spontaneität – für Franz kein Problem. Er bog nach Hamburg ab. „Alster, Elbe, überall war Wasser.
Ich wollte nicht mehr weg.“Kurz darauf zogen Franz und seine Familie nach Hamburg. Ein Jahr später machte er einen Ausflug nach Kiel. „Da war ich so froh, dass ich die Abfahrt verpasst hatte“, sagt der Friseurmeister und lacht.
Und nicht nur wegen der Stadt. Als Ute 1986 im „Salon Harry“als damals 20 Jahre alte Friseurin anfing, war es Liebe auf den ersten Blick. Franz verließ seine Frau und betreibt den Laden seit 32 Jahren gemeinsam mit seiner Ute. Sie leben in einem Haus in Glinde, haben eine erwachsene Tochter, einen Hund, ein Pferd. Und Franz hat noch vier Enkelkinder. Eigentlich ein gutes, erfülltes Leben. Aber nur eigentlich. Denn die Rücklagen sind seit dem ersten Lockdown aufgebraucht, das Paar hat bereits ein Auto verkauft. Lange können sie nicht mehr durchhalten. Besonders Franz leidet unter der Situation. „Ich kann nicht nur zu Hause sein. Das schaffe ich einfach nicht.“Der Salon ist sein Leben. Ihn aufgeben? Für den 76-Jährigen undenkbar. „Ich will weitermachen. Bis mein Körper nicht mehr kann“, sagt der Mann. Er lächelt und blickt durch die Fensterfront auf die Straße. Ein Peterwagen fährt langsam vorbei. Ansonsten Stille.