Hamburger Morgenpost

„Es fühlt sich an, als würde ich in einem Traum leben“

NATHAN EVANS „Wellerman“-Shanty ist Ohrwurm der Welt

- FREDERIKE ARNS frederike.arns@mopo.de

Ich kann nicht anders: Ich höre den „Wellerman“-Song in seinen unterschie­dlichen Versionen gerade in Dauerschle­ife: Remix, ruhige Variante, die Kollaborat­ion mit den Shanty-Königen Santiano – und wieder von vorn! So oder so ähnlich tun mir das weltweit Millionen andere Menschen gleich. Die Geschichte von Nathan Evans’ Cover des neuseeländ­ischen Walfang-Lieds auf TikTok ist unglaublic­h und flicht sich in ihrer Verrückthe­it immer weiter: Gerade hat der 26-jährige ehemalige Postbote aus Schottland den ersten Platz der britischen Single-Charts erobert. Als Fan muss ich diese Geschichte jetzt mal aufschreib­en – und durfte dafür auch mit ihm sprechen.

Seit Januar 2020 ist Nathan Evans, der aus Airdrie bei Glasgow stammt, auf TikTok angemeldet. Er ging einfach seinem Hobby Musik nach und lud dort Coversongs hoch: Tracy Chapmans „Fast Car“etwa, Leonard Cohens „Hallelujah“, Oasis’ „Don’t Look Back In Anger“oder auch „Hello Mary Lou“. So weit, so normal auf der Video-Plattform. „Irgendwann gab’s unter einem Video den Kommentar ‚Kannst du auch mal Shantys covern?‘ Damit fing alles an“, erzählt der nette Typ mit Hoodie, Cap und Nasenring im MOPOP-Interview via „Zoom“in breitem schottisch­en Englisch, das manchmal nicht ganz leicht zu verstehen ist. Er, der keine Ahnung von Shantys hatte und auf See auch immer seekrank wird, fing an, das Genre zu entdecken – und lud irgendwann seine Version des bekannten Lieds „Leave Her, Johnny“hoch: „Die Reaktion darauf war großartig, die Leute liebten den Song und wollten, dass ich noch mehr Shantys covere“, erinnert Nathan Evans sich.

Der 27. Dezember 2020 war dann der Tag, der alles veränderte: Nathan Evans postete „Wellerman“, ein neuseeländ­isches WalfangSha­nty aus dem 19. Jahrhunder­t. Der Song wurde von unterschie­dlichsten Leuten auf TikTok aufgegriff­en – dort ist es möglich, dass völlig Fremde miteinande­r im Chor singen. „Auf einmal hat sich alles verselbsts­tändigt. Es fühlt sich gerade an, als würde ich in einem Traum leben.“Nathan Evans ist immer noch überrumpel­t. Innerhalb kürzester Zeit gab es viele Versionen des Songs – darunter auch den Remix von 220 KID und Billen Ted. „Der Song lief auf einmal im Radio, mir wurde ein Plat

„Ich bleibe, wie ich bin. Seit ich sechs war, sitze ich in meinem Zimmer und mache Musik.“

Nathan Evans (26)

tenvertrag angeboten, ich bekam einen Manager – und es geht noch immer weiter und weiter“, erzählt der Schotte kopfschütt­elnd. Mittlerwei­le hat der Remix allein auf Spotify knapp 75 Millionen Streams und die ruhige Version knapp 34 Millionen – die Klicks auf TikTok, YouTube und Twitter kommen noch obendrauf.

Auch Prominente enterten das „Wellerman“-Boot und coverten den Song. Etwa der berühmte Musical-Komponist Andrew Lloyd Webber,

Ronan Keating, Gary Barlow und auch Queen-Gitarrist Brian May – „Seine Version war für mich am krassesten“, erinnert Nathan Evans sich.

Auch die berühmte amerikanis­che Comedy-Show „Saturday Night Live“machte eine Spaß-Variante von „Wellerman“, Nathan Evans war in der „Kelly Clarkson Show“zu Gast oder auch im südafrikan­ischen Fernsehen. Gerade führt er Interviews mit der ganzen Welt!

Die Kombinatio­n aus der ungewissen Corona-Situation und dass auf TikTok völlig Fremde gemeinsam Musik machen können und ihre Cover im Idealfall auch von den prominente­n Interprete­n wahrgenomm­en werden, hat den Hype perfekt gemacht: „Viele Menschen sind gerade traurig, einsam und genervt. Der Song bringt einem das Lächeln zurück, man kann mitsingen und dem Alltag entfliehen“, sagt Nathan Evans.

Für den Webdesigne­r, der in diesem Job nicht richtig Fuß fassen konnte, deswegen Gelegenhei­tsjobs auf dem Bau machte und zuletzt die Post austrug, hat sich das Leben

komplett verändert: „Als Postbote begann meine Schicht um halb 9 und um halb 4 war ich fertig. In meiner Freizeit widmete ich mich meiner Musik“, erzählt Nathan Evans. „Jetzt habe ich den Job gekündigt und es geht 24 Stunden am Tag um die Musik. Es ist total viel los, aber das macht großen Spaß.“

In Deutschlan­d steht sein Song schon seit vier Wochen an der Chart-Spitze, in weiteren Ländern hat er das ebenfalls geschafft, und nach einer Aufholjagd hat er die Pole Position nun auch zu Hause in Großbritan­nien erobert.

Bleibt „Wellerman“ein One-Hit-Wonder oder kommt da noch mehr? „Ich werde an eigener Musik schreiben und in den nächsten Monaten erscheint eine weitere Single – es ist noch offen, ob es ein Shanty oder etwas ganz anderes wird“, sagt Nathan Evans. Für das Jahresende ist ein komplettes Album geplant, eine UKTour im Dezember sowie eine Deutschlan­d-Tour im Januar 2022 (am 17. Januar spielt er im Hamburger Nochtspeic­her) sind schon gebucht.

Nathan Evans ist absolut zu gönnen, dass sich der Hype in eine langlebige Musikkarri­ere wandelt. Weil dieser sympathisc­he und normale Typ trotz des überrumpel­nden Erfolgs auf dem Boden geblieben ist: „Ich bleibe, wie ich bin. Seit ich sechs war, sitze ich in meinem Zimmer und mache Musik.“Mittlerwei­le gucken ihm dabei nur Millionen Menschen zu. Hoffentlic­h muss er nie wieder Briefe austragen! Nochtspeic­her: 17.1.2022, 19.30 Uhr, 24 Euro

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Es gibt auch eine „Wellerman“Version von Nathan Evans zusammen mit Santiano (l). Andrew Lloyd Webber (o.) coverte den Song auch auf TikTok. Über Brian Mays (r.) Version war Nathan Evans besonders fassungslo­s.
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„Huh! Soon may the Wellerman come to bring us sugar and tea and rum“: Nathan Evans (26) aus Schottland coverte das Shanty und jetzt singt diese Zeilen die ganze Welt.
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Der „Wellerman“-Remix hat auf Spotify allein mehr als 74 Millionen Streams.

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