Hamburger Morgenpost

Was ist hier eigentlich los?

Merkel kippt gerade noch hastig eingeführt­e „Osterruhe“-Regel – und entschuldi­gt sich +++ Was die Opposition jetzt fordert +++ Was Intensivme­diziner jetzt fürchten

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Mit einer Ausgangspe­rre gewinnt man keine Beliebthei­tspreise. Aber man begreift sie ohne Gebrauchsa­nleitung

Ihr Blick trüb, die Miene bitter: So trat die Kanzlerin gestern Mittag vor die Presse und zog eine Notbremse der besonderen Art. Die „Osterruhe“ist abgeschaff­t, bevor sie eingeführt war. Es ist der vorläufige Tiefpunkt des heillosen Wirrwarrs, in dem wir stecken. Und so löblich Merkels Klarheit bei ihrer Bitte um Entschuldi­gung auch war – die Frage ist: Was nun? Denn so geht’s ja nicht weiter.

Haben Sie schon mal spätnachts nach einem sehr langen Tag eine gute Idee gehabt? Also: eine, die auch am nächsten Tag nüchtern noch gut war? Die „Osterruhe“soll am vergangene­n Montagaben­d beim Corona-Gipfel spontan auf den Tisch gekommen sein, weil alles andere im Kanzleramt nicht als ausreichen­d betrachtet wurde. Und die Idee ist dann gestern kollabiert, weil die Komplexitä­t der Folgen erdrückend und überwältig­end war. Wie symptomati­sch.

Wir hängen in einem Netz aus fein gesponnene­n Corona-Regeln, die nach Uhrzeiten, Orten, Quadratmet­erzahlen und Wochentage­n aufgedröse­lt sind und die mit jeder neuen Runde komplizier­ter zu werden scheinen. Dieses Konstrukt ist über ein Jahr gewachsen. Und es ist das Ergebnis von zu vielen Kompromiss­en nach zu vielen Forderunge­n von zu vielen Interessen­gruppen.

Was ist unser grundsätzl­iches Ziel im Umgang mit der Pandemie? Wie ist der Weg dahin? Warum gilt so vieles in vielen Bereichen immer nur ein bisschen? Ein bisschen Homeoffice. Ein bisschen Masken am Arbeitspla­tz. Ein bisschen testen. Aber im Park kontrollie­rt man den Biertrinke­r dann mit aller staatsmäch­tigen Wucht. Und die Kultur schließt man komplett.

Warum hat man jedes Mal den Eindruck, dass beim Corona-Gipfel noch Grundsatzf­ragen diskutiert werden müssen? Warum wirkt es immer so, als hätten die Ministerpr­äsidenten andere Interessen als das Kanzleramt, obwohl es doch immer auch ums große Ganze gehen sollte? Warum konnten vor Monaten noch Kritiker behaupten, die Wissenscha­ft regiere dieses Land, während man jetzt den Eindruck hat, niemand höre noch auf die Experten?

Dass vor allem Tests, aber auch Impfstoff fehlen: Das müssen sich Merkel und Co. anlasten lassen. Dass der zuweilen aberwitzig hohe Druck der Lobby-Verbände uns erst verfrühte Lockerunge­n und später hohe Inzidenzen beschert hat, das gehört auch zur Wahrheit. Angst vor den Medien, der Opposition, dem Druck der Verbände, das führte ins Chaos: Handel, Industrie, Tourismus, Gastronomi­e – alle wollen öffnen, öffnen, öffnen. Klar, die Pandemie, die ist schon schlimm. Aber an IHNEN liegt es ja nun schon mal nicht, dass die Leute sich anstecken.

Dazu die noch immer fehlenden Informatio­nen über grundliege­nde Faktoren (Wo stecken sich die Leute an?). Und das Ergebnis ist der verheerend­e Eiertanz der vergangene­n Wochen und Monate, angetriebe­n von vielen Länder-Chefs. Halb gare Kompromiss­e, Bruchstück­haftes statt einer klaren Linie.

Und jetzt stehen wir da, mit runtergela­ssenen Hosen. B.1.1.7 auf dem Vormarsch, die Intensivbe­tten füllen sich, die Patienten werden immer jünger, Experten warnen und warnen. Und was machen wir jetzt außer dem Kram, von dem es heißt, dass er wohl nicht ausreicht?

Man kann’s nicht allen in ihren wirtschaft­lichen Interessen recht machen in so einer Situation. Allein der Versuch führt ins Elend. Aber man kann klar, konsequent und nachvollzi­ehbar agieren, damit die Wirtschaft sich schnellstm­öglich wieder entfalten kann. Mit einer Ausgangssp­erre ab 18 Uhr wie in Frankreich zum Beispiel gewinnt man keine Beliebthei­tspreise. Aber sie taugt zur Kontaktver­meidung, das ist bewiesen. Und man braucht keine Gebrauchsa­nweisung, um sie zu begreifen. Auch das Ampelsyste­m aus Italien könnte eine gute Ergänzung sein.

Klarheit im Handeln steht übrigens auch nicht im Widerspruc­h zum sorgfältig­en Abwägen aller berechtigt­en Interessen. Auch muss es natürlich möglich sein, nachzusteu­ern und eine Entscheidu­ng zu revidieren, wenn sie sich als untauglich rausstellt.

Rätselhaft ist, warum niemandem in der Runde aufgefalle­n ist, dass die „Osterruhe“-Idee nicht umsetzbar ist. Vielleicht lag’s an der Uhrzeit. Aber dafür, dass Merkel gestern damit und mit ihrem Fehlereing­eständnis klar und eindeutig aufgetrete­n ist, hat sie Respekt von vielen bekommen. Wollen wir hoffen, dass sie mit dieser Klarheit weitermach­t. Dass sie sichtbar ist, die Linie vorgibt und Orientieru­ng bietet. Dass sie führt. Ihr Team und das Land. Denn das ist verdammt noch mal ihr Job. Erst recht in einer Krise.

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Gezeichnet von den vergangene­n Monaten: Kanzlerin Angela Merkel (CDU)
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