Hamburger Morgenpost

Was wir von Tübingen lernen können

Palmers Test-Konzept:

- VIOLA DENGLER viola.dengler@mopo.de

TÜBINGEN – Die neue Frühjahrsk­ollektion anprobiere­n, sich dann mit einem Glas Aperol Spritz vor das Lieblingsl­okal setzen und die Sonne genießen: Was für die meisten Menschen in Deutschlan­d ein weit entfernter Traum ist, gehört in Tübingen längst wieder zum Alltag. Die Rückkehr zu einer Normalität trotz Corona verdankt die Stadt dem Grü nen-Oberbürger­meister, ei ner engagierte­n Ärztin – und einer simplen Idee.

Die Strategie ist einfach: Wer sich testen lässt und ein neerhält gatives Ergebnis hat, ein sogenannte­s Tagesticke­t. Mit diesem dürfen die Tübinger shoppen gehen, Restaurant­s und Bars besuchen oder sich eine Theaterauf­führung anschauen. Am jeweiligen Eingang wird das Ticket geprüft – ähnlich dem Perso-Check von Partygänge­rn am Clubeingan­g.

Neun Teststatio­nen wurden hierfür im Stadtgebie­t aufgebaut, deren medizinisc­hes Personal bis zu 1000 kostenlose Antigen-Schnelltes­ts pro Stunde schafft. Wer getestet wird, muss rund 20 Minuten warten – bei einem Negativ-Ergebnis wird man dann in die neue Freiheit entlassen. Das Tagesticke­t ersetzt jedoch nicht die bekannten Corona-Regeln: Maskenpfli­cht und Abstandhal­ten gelten weiterhin.

Verantwort­lich für die Strategie ist unter anderem der Oberbürger­meister der Stadt, Boris Palmer (Grüne). Er kritisiert­e in der Pandemie wiederholt das planlose Hin und Her der Corona-Politik in Berlin und setzte früh auf eine eigene Strategie. In einer „Spiegel TV“-Doku sagte Palmer zuletzt mit Blick auf die Einzelhänd­ler: „Irgendwann geben die alle auf und dann sind die Innenstädt­e tot. Das müssen wir irgendwie vermeiden.“Die Devise des Oberbürger­meisters: „Das Kaninchen, das vor der Schlange wartet, wird eigentlich immer gefressen. Also ist das nicht die beste Strategie. Man muss einfach was unternehme­n.“

Doch das Modell-Projekt gibt es nicht nur wegen Palmer. Die Ärztin Dr. Lisa Federle ist ebenfalls eine treibende Kraft des Tübinger Sonderwegs – sie wurde für ihren Einsatz sogar mit dem Bundesverd­ienstkreuz ausgezeich­net. Federle setzte früh auf Schnelltes­ts. Bereits

Irgendwann geben die alle auf und dann sind die Innenstädt­e tot. Das müssen wir vermeiden. Boris Palmer

zu Beginn der ersten Corona-Welle richtete die Pandemie-Beauftragt­e ein CoronaTest­mobil ein – mit dem sie dann die neun Alten- und Pflegeheim­e der Stadt abklappert­e. Eine Idee, die schnell bundesweit nachgeahmt wurde. Denn während die Infektions- und Todeszahle­n in Altenheime­n in den meisten Städten in die Höhe schossen, blieben die Zahlen in Tübingen vergleichs­weise niedrig.

Auch das Modell des Tagesticke­ts scheint erfolgvers­prechend zu sein: Denn obwohl auch im Kreis Tübingen die Zahlen leicht steigen, wurden hier Stand Mittwoch nur 23 Neuinfekti­onen und eine Inzidenz von 71,7 gemeldet. Offene Läden und niedrige Corona-Zahlen: Das kann also klappen! Der Grund: Ihre Strategie sorge für einen doppelten Schutz, so Federle. Die Tübinger hielten sich nicht nur an die Abstandsre­geln, sondern hätten durch die Tests auch eine ungefähr „achtzigpro­zentige Sicherheit, dass man keinen infiziert“. Doch das sei noch nicht alles: „Die ganzen Supersprea­der hol’ ich raus“, so die Ärztin bei „Spiegel TV“.

„Wir brauchen Tübingen überall“, sagte NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet gestern im Düsseldorf­er Landtag. Er wolle nun ein ähnliches Modell in seinem Bundesland testen. Und auch die Kanzlerin hat die Corona-Strategie in Tübingen mittlerwei­le als Vorbild gepriesen. „Es spricht nichts dagegen, das in ganz Deutschlan­d so zu machen“, sagte Merkel gestern.

In Tübingen geht die Corona-Strategie derweil bereits in die nächste Runde. Am Dienstag teilte die Stadt mit, dass sie statt des Tagesticke­ts aus Papier nun ein Armband mit QR-Code verteilen werde. Das soll vor Missbrauch schützen – das Armband könne nicht weitergege­ben werden. Durch den Scan des Codes per Handy wird eine Webseite aufgerufen, auf der das Testergebn­is hinterlegt ist. Da das digitale Ticket kein spezielles Lesegerät benötige, gebe es auch keinen größeren Aufwand für die „Türsteher“des Einzelhand­els, der Gastro und Kulturstät­ten.

Die ganzen Supersprea­der hol’ ich raus. Dr. Lisa Federle

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Bei einem negativen Corona-Test bekommt man ein Tagesticke­t – und damit Zugang unter anderem zu Cafés und Restaurant­s.
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 ??  ?? Dank Test und Tagesticke­t können die Tübinger wieder shoppen gehen.
Dank Test und Tagesticke­t können die Tübinger wieder shoppen gehen.

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