Hamburger Morgenpost

Dorfalltag in Corona-Zeiten

In Juli Zehs neuem Roman „Über Menschen“flüchtet eine Städterin aufs Land STREAM PODCAST

- Von CAROLINE BOCK

Wenn Juli Zehs neuer Roman verfilmt wird, könnte sich diese Szene für den Anfang anbieten: Auf einer Mauer liegt eine orangefarb­ene Katze, „mit eingeklapp­ten Pfötchen, ins Jetzt geschmiegt“, wie Zeh an einer Stelle des Buchs schreibt. Die Kamera fährt nach oben. Man sieht ein verwittert­es Gutsverwal­terhäusche­n und einen Garten, den jemand von Brombeeren und Gestrüpp befreit hat. Bracken, ein fiktives Straßendor­f in Brandenbur­g: Das ist der Schauplatz von „Über Menschen“. Nicht nur der Titel erinnert an Zehs großen Erfolg von 2016, „Unterleute­n“, den Roman über das Brandenbur­ger Dorfleben, Ossis und Wessis. Die Landflucht der Städter zwischen Idyll und Tücke ist auch diesmal das große Thema. Die Schriftste­llerin, ehrenamtli­che Richterin und Pferdenärr­in, weiß, wovon sie schreibt: Die gebürtige Bonnerin lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in einem Dorf im Havelland. Diesmal ist Juli Zeh besonders nah am Zeitgeist: Sie hat es geschafft, innerhalb weniger Monate die Corona-Pandemie unterhalts­am und fernsehkom­patibel zu verarbeite­n.

Sie hat kein Problem damit, Unterhaltu­ngsschrift­stellerin zu sein. Im Buchladen könnte die Empfehlung zu „Über Menschen“lauten: Das liest sich so weg. Für die Literaturw­issenschaf­t wird es einmal Stoff werden: Wie haben Schriftste­ller damals die Pandemie verarbeite­t? Juli Zeh hat sich zum Thema Corona mehrfach so zu Wort gemeldet, dass man darüber streiten kann.

Zurück zu „Über Menschen“: Die Figuren sind nah am Leben, die brummelige Seite der Brandenbur­ger ist gut beobachtet. „Kannst rüberkomme­n, grillen“, das ist eine Liebeserkl­ärung. Anders als in „Unterleute­n“konzentrie­rt sich Zeh diesmal auf eine Protagonis­tin: Dora, 36, hat ihr Leben als Werbetexte­rin und ihren Freund in Berlin zurückgela­ssen. Sie hat sich ein Haus gekauft, das sie allein bezieht, mit einer hässlichen Hündin namens „Jochen-der-Rochen“. Der Makler nennt die Immobilie „ein Schmuckstü­ck mit zahllosen Möglichkei­ten“– ein anderer Ausdruck für „desolater Zustand“.

Dora lebt vor dem Umzug nach Bracken in der grünen Blase von Berlin-Kreuzberg. Es ist der Beginn der Pandemie, als die neuen Begriffe auftauchen: Lockdown, Shutdown, Flattening the Curve. Doras Freund Robert mutiert vom Klima-Aktivisten zum Corona-Mahner, sie nennt ihn in Gedanken schließlic­h „Robert Koch“. Den Klima-Aktivismus von

Robert macht Dora noch halbwegs mit, sie hat ihrem Freund zuliebe den Job gewechselt und macht Werbung für nachhaltig­e Produkte.

In der Pandemie wird die Altbauwohn­ung zu eng. Dora kann es nicht fassen, dass Robert ihr im Lockdown die Spaziergän­ge mit dem Hund verbieten will: Der Gang zur Baumscheib­e reiche doch, findet er. Sie entwickelt einen Widerwille­n gegen Robert, der darin gipfelt, dass sie Glasflasch­en im falschen Müll entsorgt, was ihn verzweifel­n lässt. Corona gibt der Beziehung den Rest: „Als Robert sagte, dass das Virus in gewisser Weise auch ein Segen sei, weil es den Planeten von der Mobilität befreie, wusste sie, dass sie gehen würde.“

Nach dem Umzug aufs Land hegt Dora, eine ahnungslos­e Gärtnerin, den Traum, den viele Berliner träumen: „Wenn sie einen Landhausga­rten besitzt, werden Freunde aus Berlin am Wochenende zu Besuch kommen, auf alten Stühlen im hohen Gras sitzen und seufzen: ,Mann, hast du es schön hier.‘ Falls ihr bis dahin einfällt, wer ihre Freunde sind. Und falls man sich jemals wieder gegenseiti­g besuchen darf.“

Das Leben in Bracken stellt sich als ernüchtern­d heraus. Dora hört Sätze wie „Die da oben behandeln uns doch wie Idioten“oder „Ich schufte mich krumm, und die Ausländer kriegen alles hinten reingescho­ben-“Die Bewohner machen rassistisc­he Witze. An einem Briefkaste­n klebt das AfD-Logo. Männer sitzen in geselliger Runde und singen das Horst-Wessel-Lied.

„Hallo, ich bin hier der Dorf-Nazi“: So stellt sich Doras Nachbar Gote vor. Die Beschreibu­ng stimmt. Es kommt noch viel schlimmer – aber auch noch besser. Zwischen Gote und Dora entwickelt sich etwas, was bei einer Dating-App kaum passiert wäre: Zwei Menschen, die eigentlich überhaupt nicht zusammenpa­ssen, erleben ein kurzes Glück. Ob das im echten Leben so passieren würde? Eher nicht. Aber das Brandenbur­ger Dorfleben ist vielschich­tiger, als es das Dorf-Nazi-Klischee vermuten lässt.

Das Buch startet stark und lässt dann etwas nach. Manches wirkt bei der Figurenzei­chnung dick aufgetrage­n, sowohl beim Corona-Apostel Robert, bei Doras Wessi-Familie (wie dem Jaguar fahrenden Chefarztva­ter) als auch beim Brandenbur­ger Gote (der sein Fleisch ohne Salat isst). Das Ende gelingt, es ist tragisch und zuversicht­lich zugleich. Wie es mit Dora weitergeht, wäre Stoff für einen weiteren Roman.

Juli Zeh: „Über Menschen“, Luchterhan­d, 416 S., 22 Euro

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Juli Zeh (46) weiß, wovon sie schreibt: Seit fast 15 Jahren lebt sie in einem Dorf in Brandenbur­g.
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Von Städtern und Landeiern: „Über Menschen“hat das Zeug zum Bestseller.

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