„In manchen Stadtteilen weiß man gar nichts von der Not“
Seit 25 Jahren unterstützen die Mitglieder Bedürftige in Hamburg mit Projekten und Geld
Es ist das vermutlich einzige Parlament, das nur gute Entscheidungen trifft: Im Hamburger Spendenparlament entscheiden die Mitglieder, welche Initiativen einen finanziellen Schubs verdient haben, egal ob es um Brillen, Babys oder Obdachlose geht. In diesem Jahr feiert das Parlament sein 25-jähriges Bestehen – obwohl sein Gründer gehofft hatte, dass es irgendwann überflüssig wird.
Es war Stephan Reimers, Landespastor und Leiter des Diakonischen Werks Hamburg, der 1993 „Hinz & Kunzt“gründete, eine Obdachlosenzeitung nach englischem Vorbild. Eine Leserbefragung zeigte damals, dass die Hamburger nicht nur eine Zeitung kaufen, sondern mehr tun wollen im Kampf gegen Armut in der Stadt.
„Kein soziales Projekt soll am Geld scheitern“, dieses Motto gab Reimers aus und entwickelte die Idee einer Art „Bank“, die Helfern unbürokratisch Geld zur Verfügung stellt. Am Ende stand das „Spendenparlament“, das sich am 27. März 1996 zur ersten Sitzung traf.
Seit 2013 ist Uwe Kirchner (68) dabei, Volkswirt im Ruhestand und Vorstandsvorsitzender des Parlaments. Für Pfizer hat er gearbeitet, für den Airport, für eine genossenschaftliche Bank.
Wenn er vom Parlament spricht, klingt Begeisterung durch – und Stolz auf die hanseatische Tradition, zu helfen: „In Berlin und München hat das nicht geklappt.“Sozialsenatorin Melanie Leonhard nannte das Spendenparlament einmal die „soziale DNA der Stadt“.
Rund 3100 Mitglieder gibt es, die im Jahr rund 400 000 Euro Mitgliedsbeiträge zahlen. Bereits ab 5 Euro pro Monat kann man beitreten, viele „Parlamentarier“spenden ein Vielfaches, „ohne das an die große Glocke zu hängen“, so Kirchner.
Das Prinzip: Soziale Initiativen bewerben sich, bei den Parlamentssitzungen drei Mal im Jahr wird debattiert, wer Geld erhält. Nebeneffekt: Die Mitglieder bekommen einen Eindruck davon, wo es in der Stadt fehlt. Kirchner: „In vielen Stadtteilen bekommt man von der Not ja gar nichts mit.“
Rund 120 Anträge prüft die Finanzkommission jährlich. Entscheidungskriterien: „Es müssen Projekte gegen
Das Spendenparlament ist die „soziale DNA“der Stadt. Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard
Ich hoffte, dass sich das Parlament von selbst erledigt, weil es weniger Armut gibt. Das ist nicht passiert. Vorsitzender Uwe Kirchner
Armut. Obdachlosigkeit und Isolation sein. Und: Wir fördern nichts, für das die Stadt zuständig ist.“Seit Bestehen haben die Parlamentarier 14,5 Millionen Euro für 1450 Initiativen ausgeschüttet.
Welche Projekte ihm unvergesslich sind? „Die Babylotsen“, sagt Kirchner spontan: „Da hat das Spendenparlament 2007 eine Anschubfinanzierung von insgesamt 215 000 Euro geleistet, und inzwischen gibt es dieses Projekt in acht Bundesländern, regulär finanziert.“Rund 115 000 Familien jährlich bekommen nach der Geburt Unterstützung durch die „Babylotsen“.
Auch die „Elternlotsen“sind so eine Erfolgsgeschichte. Bei diesem Projekt helfen rund 100 Frauen und Männer mit Migrationshintergrund Familien, die neu nach Deutschland gekommen sind. Das Spendenparlament half dem Projekt auf die Beine, 2016 hat die Stadt die Finanzierung übernommen – und es geht noch weiter: „Bis zu 30 Elternlotsen sollen nun eine sozialpädagogische Ausbildung machen.“Damit werden aus den Helfern Profis mit beruflicher Perspektive.
Dass das Arztmobil Obdachlose nicht mehr in einem provisorisch umgebauten Bus versorgen muss, ist ebenfalls dem Spendenparlament zu verdanken: 60 000 Euro für ein neues Fahrzeug wurden überwiesen.
Kirchners Lieblingsinitiative aber war ein Theaterprojekt: „Da traten demenzkranke alte Menschen mit Drittklässlern auf und das mit einer solchen Freude, das hat mich tief berührt.“
Oder die Aktion „Mehrblick“, bei der Optiker Sehtests bei Obdachlosen durchführen. Das Spendenparlament half mit 14 600 Euro: „Da habe ich alle meine alten Brillen hingebracht“, sagt Kirchner, „es ist ja verrückt, was wir alles wegschmeißen.“
Im Coronajahr 2020 hat das Spendenparlament 1,2 Millionen Euro verteilt – so viel wie noch nie. Eigentlich hatte Pastor Reimers gehofft, dass das Parlament sich von selbst erledigt, weil die Armut weniger wird. Kirchners nüchternes Fazit: „Das ist nicht passiert. Die soziale Schere ist eher weiter auseinander gegangen.“