Hamburger Morgenpost

Warum Senioren AstraZenec­a ablehnen

Ein Risikofors­cher ordnet ein:

- Das Interview führte STEPHANIE LAMPRECHT

Hamburg gibt am Mittwoch, Donnerstag und Freitag dieser Woche den Impfstoff von AstraZenec­a für alle ab 60 Jahren frei. 24 000 zusätzlich­e Termine sind unter 116 117 oder online unter www. impftermin­service.de zu buchen. Ein Grund: Viele der bisher Impfberech­tigten über 70 Jahren lehnen das Vakzin ab – obwohl viele Experten und auch die Ständige Impfkommis­sion AstraZenec­a für Senioren ausdrückli­ch empfehlen. Die

MOPO sprach mit dem Risikofors­cher Professor Dr. Ortwin Renn, wissenscha­ftlicher Direktor am Institut für Transforma­tive Nachhaltig­keitsforsc­hung (IASS) in Potsdam über irrational­e Gefahrenei­nschätzung und darüber, was Rauchen und Flugreisen mit Corona zu tun haben.

MOPO: Herr Professor Renn, viele ältere Menschen lehnen eine Impfung mit AstraZenec­a ab. Warum ist die Angst vor der Impfung größer als vor der Krankheit?

Ortwin Renn: Generell gilt: Risiken, an die wir uns gewöhnt haben, schätzen wir eher zu niedrig ein, neue Risiken schätzen wir dagegen höher ein, als sie tatsächlic­h sind. Covid-19 ist ein Risiko, an das wir uns ein Jahr lang gewöhnt haben. Die meisten Menschen, auch die älteren, sind ohne Infektion durch die Pandemie gekommen und fühlen sich gut geschützt. Eine Thrombose durch eine Impfung ist aber ein neues Risiko. Thrombosen sind darüber hinaus ein sehr vertrautes Gesundheit­srisiko, also etwas, das als lebensgefä­hrlich bekannt ist.

Aber eine Infektion mit Corona kann doch gerade für die Älteren auch lebensgefä­hrlich werden.

Das stimmt, aber das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, wird als steuerbar wahrgenomm­en. Ich kann mich selbst davor schützen, indem ich zu Hause bleibe, draußen Maske trage und Abstand halte. Bei einer Impfung aber passiert etwas in meinem Körper, das ich nicht kontrollie­ren kann. Senioren, die so denken, sind nicht zwangsläuf­ig Impfgegner, aber sie sind empfänglic­h für deren Argumente, etwa dass die Thrombosez­ahlen in Wahrheit viel hö

Das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, wird als steuerbar wahrgenomm­en.

Professor Ortwin Renn

her sind, dass auch Ältere mehr betroffen sind, als öffentlich zugegeben wird, dass das alles eine Strategie der Pharmafirm­en ist, um Geld zu verdienen. Dazu kommt eine fast mythologis­che Haltung: Eine Krankheit wird als gottgegebe­nes Schicksal wahrgenomm­en, aber wenn ich durch eine Impfung Schaden nehme, dann habe ich dem ja aktiv zugestimmt, dann bin ich selbst schuld. Diese Haltung ist unter Eltern weit verbreitet, die ihre Kinder nicht impfen lassen. An Corona erkennen wir universell­e Muster der Risikobewe­rtung.

Wie meinen Sie das?

Autofahren etwa gilt als ein steuerbare­s Risiko, jedenfalls wenn man selbst am Steuer sitzt. 80 Prozent der Menschen glauben, dass sie besser Auto fahren als alle anderen. Und wenn doch mal ein Unfall passiert, hat man gute Überlebens­chancen. Fliegen ist statistisc­h viel sicherer, wird aber als unkalkulie­rbares Risiko wahrgenomm­en, weil man die Kontrolle an den Piloten abgeben muss. Und wenn das Flugzeug abstürzt, ist man tot. Auf Corona übertragen wäre eine Covid 19-Erkrankung das Autofahren und die Thrombose durch eine Impfung wäre das Fliegen.

England hat Millionen Menschen mit AstraZenec­a geimpft, viele Wissenscha­ftler erklären, dass der Impfstoff für ältere Menschen empfehlens­wert ist, gilt das gar nichts?

Die meisten Senioren nehmen diese Informatio­nen ja an. Aber die anderen Motive der Risikobewe­rtung sind sehr stark. Wir sind, was das Einschätze­n von Gefahren angeht, alle sehr inkonsiste­nt und das ist auch gut so, sonst würde ja etwa keiner mehr auf einen Berg steigen. An dem Spruch „No risk, no fun“ist schon was dran. Jeder Raucher weiß, dass Rauchen gefährlich ist, sagt sich aber, dass er sicher die Ausnahme ist, bei der nichts passiert. Jeder kennt jemanden, der als Raucher sehr alt geworden ist. Und wenn es Helmut Schmidt ist. Wenn ich aber das Gefühl habe, andere wollen mir ein Risiko aufdrängen, etwa eine Impfung mit ihren Nebenwirku­ngen, dann handeln wir nach dem Motto „Better safe than sorry“, also gehen lieber auf Nummer sicher. Dann gehen viele Menschen davon aus, dass sie sicher zu denjenigen gehören, die Schaden nehmen.

Und dann glaubt man eher den Norwegern, die das Impfen mit AstraZenec­a eingestell­t haben, als den Engländern?

Ja, aber anders als beim Rachen gefährdet diese individuel­le Irrational­ität nicht nur den Einzelnen, sondern die ganze Gemeinscha­ft.

Thrombosen sind ein sehr vertrautes Gesundheit­srisiko, also etwas, das als lebensgefä­hrlich bekannt ist.

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Viele Senioren lehnen eine Impfung mit AstraZenec­a ab.
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Risikofors­cher Professor Ortwin Renn

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