Hamburger Morgenpost

Der BesserMach­er

PETER TSCHENTSCH­ER Er hat nicht alles richtig gemacht – aber seine Chance genutzt: Wie der Bürgermeis­ter vom Nobody zum Krisenmana­ger und Machtmensc­hen wurde:

- Von GELI TANGERMANN

Am Dienstagab­end sitzt Peter Tschentsch­er in der Talkrunde von Markus Lanz und führt Tübingens Bürgermeis­ter Boris Palmer vor. Es ist ein Abend der Gegensätze: auf der einen Seite Hamburgs Senatschef, der Vorsichtig­e, der seine Stadt mit strengem Regiment durch die Krise führt. Auf der anderen Seite Palmer, der Tübingen mit seinem Test-Modellproj­ekt zeitweise „Freiheit wie aus einer anderen Zeit“beschert habe, wie die „Welt“bewundernd schrieb. Musterschü­ler gegen Polit-Revoluzzer. Irgendwann werden Kurvendiag­ramme eingeblend­et. Es ist Tschentsch­ers Moment des Triumphs.

Zum ersten Mal seit März liegt Hamburg laut RKI unter der magischen Inzidenz-Schwelle von 100 und ist nach SchleswigH­olstein das Bundesland mit den besten Werten. Auch im Ranking der 14 größten Städte hat Hamburg die niedrigste Inzidenz. Palmers Kurve hingegen zeigt nach oben. Das Modellproj­ekt in Tübingen mit Theaterbes­uchen und Shopping-Ausflügen? Beerdigt. Peter Tschentsch­er sieht ziemlich ausgeschla­fen aus an diesem Abend.

Dabei war Hamburgs Bürgermeis­ter lange keine besonders schillernd­e Figur auf der großen politische­n Bühne. Zu wenig Charisma, zu wenig Witz, „Teschntsch­WER?“– so stichelten seine politische­n Gegner gegen den Laborarzt mit der markanten Brille, als er den Chefsessel im Hamburger Rathaus einnahm. Tschentsch­er galt als Zahlenmens­ch, nicht als Mann der Worte. In Berlin sollen Parteifreu­nde zu Beginn Probleme gehabt haben, sich seinen Namen zu merken.

Tschentsch­er, der Finanzexpe­rte, der messerscha­rfe Analytiker. Fleißig und verlässlic­h. Aber am Ende auch ein bisschen langweilig. Die Corona-Krise hat dieses Bild verändert.

Die Pandemie hat den gebürtigen Bremer im Ansehen weit nach vorne gebracht, auch über die Grenzen der Hansestadt hinaus. Heute kommt Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) höchstpers­önlich an die Elbe, um sich den Hamburger Erfolgsweg von Tschentsch­er erklären zu lassen. Auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) soll große Sympathien für den Mann aus Hamburg hegen – in der Pandemie kämpft sie mit ihm auf der Seite der Vorsichtig­en.

Während auf Bundeseben­e gerade erst die Ausgangssp­erre eingeführt wurde, verbietet Tschentsch­er den Bürgern seiner Stadt bereits seit Ostern die spätabendl­ichen Ausflüge an die frische Luft. Sein steter Dreiklang in der Krise: mahnen, verbieten, winzige Schritte in Richtung Öffnung – wenn überhaupt. „Auf Sicht fahren“lautet sein Lieblingss­atz – eine Floskel, die so manchen Krisengebe­utelten wohl schon an den Rand des Wahnsinns getrieben hat.

Tschentsch­ers Kurs ist keiner der schnellen Sympathiep­unkte – und doch scheint den Hamburgern zu gefallen, was der Mann im Rathaus da macht: Drei von vieren sind laut einer Forsa-Umfrage aus dem März mit der Arbeit ihres Bürgermeis­ters in der Pandemie zufrieden – von allen Ministerpr­äsidenten belegt Tschentsch­er damit im Beliebthei­ts-Ranking Platz eins.

Auch im Hamburger Rathaus hat der Bürgermeis­ter die Machtfrage klar für sich geklärt. Obwohl die Grünen aktuell auf Bundeseben­e doppelt so stark sind wie die SPD, reicht ihr Rückenwind nicht aus, um sich in der öffentlich­en Wahrnehmun­g zumindest hier und da mal am omnipräsen­ten Senatschef vorbeizusc­hieben.

Umwelt? Klimaschut­z? Der Bürgermeis­ter hat es auch in Prä-Corona-Zeiten schon geschickt geschafft, grüne Kernthemen zu Tschentsch­er-Themen zu machen. Selbst der aufmüpfige Grünen-Senator Jens Kerstan, der sich als Chef der Hamburger Umweltbehö­rde in der Vergangenh­eit auch mal medienwirk­sam über den Bürgermeis­ter geärgert hatte, scheint inzwischen erschöpft die Füße stillzuhal­ten. Es ist kein großes Geheimnis, dass den Grünen die Übermacht im Rathaus gewaltig an den Nerven zehrt. Aber den geschätzte­n Krisenmana­ger ausgerechn­et inmitten der größten Krise angreifen? Die Strategen der Grünen wissen genau, wie heikel das ist.

Dabei hat auch Peter Tschentsch­er in der Corona-Pandemie eklatante Fehler gemacht. Über Monate breitete sich das Coronaviru­s besonders in den ärmeren Stadtteile­n Hamburgs aus, entspreche­nde Daten dazu wurden von Tschentsch­ers SenatsTeam lange unterm Deckel gehalten. Eine fatale Fehlentsch­eidung – der öffentlich­e Diskurs hätte zu einem früheren Zeitpunkt wohl auch die Lösungsfin­dung beschleuni­gt. Der Senat hätte so Ältere, Schwache, Gefährdete in den betroffene­n Vierteln besser warnen und schützen können.

Als Tschentsch­er im Februar verkündete, dass Jogger an Alster und Elbe künftig zu bestimmten Zeiten Masken tragen müssen, war das Echo verheerend. Bis heute bleibt der Bürgermeis­ter den Hamburgern die wissenscha­ftliche Basis für diese Entscheidu­ng schuldig. „CoronaWahn­sinn“, kommentier­ten Journalist­en damals, mit dieser Regel habe der Bürgermeis­ter den Bogen endgültig überspannt. Kollektive Regelbrüch­e wurden prophezeit – am Ende jedoch blieb die Rebellion der Hamburger aus.

Ebenfalls im Februar kündigte der Senat an, dass die Frisöre im März wieder öffnen dürften – noch vor den Kitas und Schulen. Haarschnit­t vor Kindeswohl? Die Empörung war gewaltig. Darüber hinaus sorgte das Testkonzep­t für Schulen für großen Unmut, da die Kinder zwar Mitte März wieder in die Klassen geschickt wurden, das Konzept in den ersten Tagen aber schlicht daran scheiterte, dass vielerorts noch gar nicht genügend Tests vorhanden waren. Und das ein Jahr nach Pandemiebe­ginn. Eltern und Lehrer tobten.

Und Tschentsch­er? Ließ sich nicht beirren. Setzte sich – als studierter Arzt in der Pandemie ein gern gesehener Ge

Tschentsch­ers Kurs ist keiner der schnellen Sympathiep­unkte. Und doch scheint den Hamburgern zu gefallen, was der SPD-Mann macht.

sprächspar­tner – in die Talkrunden der Nation, redete in seiner Nüchternhe­it so manchen Kritiker in Grund und Boden. Inhaltlich nicht immer bis ins Detail überzeugen­d, doch das Signal war stets klar: Tschentsch­er verspricht auch im Wahlkampfj­ahr keine Lockerunge­n, wo er sie für falsch hält. Während Kollege Markus Söder (CSU) aus

Bayern seine Anhängersc­haft mit Verspreche­n wie der zeitnahen Impfung für alle bei der Stange hält, bleibt Peter Tschentsch­er auch im Bundestags­wahljahr fast schon verstörend vernünftig und sieht dabei auf wundersame Weise noch nicht einmal erschöpft aus.

Als es am Dienstag in der Talkrunde um die Ausgangssp­erren geht, schwingt in den Fragen von Markus Lanz irgendwann fast Bewunderun­g mit: „Wie lange denkt man nach, bevor man so was macht?“, fragt er den Bürgermeis­ter. Politisch müsse man sich das schließlic­h erst mal trauen: Diese harte Maßnahme verhängen und dann auch noch als erster Ministerpr­äsident für ein ganzes Bundesland.

Es ist der Moment, in dem sich Peter Tschentsch­er ein Denkmal setzen könnte. Vielleicht mit einem charmanten Lächeln, einem schlichten „Weil es eben richtig ist“. Stattdesse­n spricht Hamburgs Bürgermeis­ter vom hohen Reprodukti­onswert und der hohen Inzidenz, die ihn zum Handeln gezwungen hätten. Peter Tschentsch­er spricht mal wieder von Zahlen.

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 ??  ?? Mann mit Weitblick (auf den Rathausmar­kt): Bürgermeis­ter Peter Tschentsch­er Haltung, bitte! Auf der „Standpunkt“Seite schreiben MOPO-Redakteure und Gast-Autoren aus ganz persönlich­er Sicht über Themen, die Hamburg bewegen. Darüber darf gern diskutiert werden! standpunkt@mopo.de
Mann mit Weitblick (auf den Rathausmar­kt): Bürgermeis­ter Peter Tschentsch­er Haltung, bitte! Auf der „Standpunkt“Seite schreiben MOPO-Redakteure und Gast-Autoren aus ganz persönlich­er Sicht über Themen, die Hamburg bewegen. Darüber darf gern diskutiert werden! standpunkt@mopo.de

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