Esther Bejarano Die Akkordeonspielerin von Auschwitz
ESTHER BEJARANO Die 96-jährige KZ-Überlebende fordert: „Der 8. Mai muss Feiertag werden!“
„Krümel“nennen ihre Freunde sie liebevoll. Eine Anspielung auf ihre 1,47 Meter Körpergröße. Dass sie zwar klein ist, aber trotzdem eine wirklich überragende Frau, daran gibt es keinen Zweifel. Großartig, unbeugsam und von unglaublicher Kraft. Nicht lange her, da stand die 96-Jährige, die im Mädchenorchester von Auschwitz das Akkordeon spielte, noch mit ihrer Rap-Band auf der Bühne, machte Musik gegen rechts. Sie kämpft und kämpft und kämpft. Zurzeit vor allem ums eins: Darum, dass der 8. Mai zum gesetzlichen Feiertag wird. Endlich. 70 Jahre überfällig sei das, sagt sie. Weil es kein Tag der Niederlage war. Sondern der Befreiung. Ein Tag der Freude.
Eigentlich hatte sich Esther Bejarano vorgenommen, für immer zu schweigen. Nie wieder zu reden über Nazis, über Auschwitz. Sie wollte das Grauen verdrängen, vergessen. „Mein Mann wusste natürlich, dass ich dort Gefangene gewesen war – aber er stellte nie Fragen, und das war gut so“, sagt sie. Ihren Kindern hat sie es lange, lange verschwiegen. „Ich dachte, das zu wissen, würde sie nur belasten. Ich wollte, dass wir alle nach vorne blicken.“
Das war Esther Bejaranos Einstellung bis zu einem Tag im Sommer 1978. Doch dann holte die Vergangenheit sie wieder ein. Sie stand gerade in ihrer Modeboutique „Sheherazade“am Hellkamp in Eimsbüttel, als sie draußen Lärm hörte, rausging und einen Infostand der NPD auf dem Gehweg sah. „Die verteilten da ausländerfeindliche Flugblätter. Entsetzliche Propaganda.“
Linke Gegendemonstranten erschienen, riefen: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“Schließlich mischte sich die Polizei ein und griff mit Gummiknüppeln die linken Gegendemonstranten an. „Ich konnte es nicht fassen. Die Polizei schützte Nazis! Einen der Polizeibeamten habe ich mir dann geschnappt, ihn am Revers gepackt und ihn gefragt, wieso er das tut. ,Das sind doch diejenigen, die Deutschland schon mal ins Unglück gestürzt haben‘, habe ich gesagt. Der Beamte forderte mich auf, ihn loszulassen, sonst werde er mich festnehmen. Da habe ich geantwortet: ,Machen Sie doch! Ich habe Schlimmeres erlebt. Ich war in Auschwitz!‘“
Als sich dann auch noch ein NPD-Mann einmischte und den Polizisten aufforderte, die Boutiquen-Besitzerin einzusperren, weil ja bekannt sei, dass „alle Auschwitz-Gefangenen Verbrecher gewesen“seien, da war Esther Bejarano klar: „Es reicht! Ich bin dann zurück in meine Boutique und habe noch am selben Abend angefangen, mein erstes Buch über mein Leben im Holocaust zu schreiben.“
Mit großer Sorge beobachtet Esther Bejarano das Erstarken rechter Parteien. „Jetzt müssen alle vernünftigen Menschen zusammenstehen gegen diesen menschenverachtenden Wahnsinn“, sagt sie. „Wenn die Leute wieder sagen, es geht mich nichts an, dann haben wir den Salat. Dann werden die stärker und immer stärker. So wie damals.“
Esther Bejarano wird am 15. Dezember 1924 als Esther Loewy in Saarlouis geboren. Ihr Vater Rudolf Loewy ist Oberkantor der Jüdischen Gemeinde in Saarbrücken, also im damals vom deutschen Reich abgetrennten Saargebiet. ls das Saarland 1935 ins eutsche Reich eingeglieert wird, ist Esther elf. „Ich ann mich erinnern, wie itler im offenen Wagen urch Saarbrücken fuhr. Alle haben gejubelt und den Hitler-Gruß gezeigt. Ich aber habe in der Menge gestanden und gedacht: Oh Gott, was soll jetzt werden? Wir hatten ja gehört, was im Rest des Landes mit den Juden geschah.“
Ihren Vater nennt Esther inen deutschen Patrioten. „Das mit den Nazis hat er nicht so ernst genommen. Er war sicher, Hitler werde nach drei, vier Monaten wieder weg sein vom Fenster. Das deutsche Volk werde es nicht zulassen, dass Hitler den Juden was tut. Meine Mutter war da viel realistischer: Sie hat immer wieder darauf gedrungen, dass wir das Land verlassen. In Deutschland gebe es für Juden keine Zukunft mehr.“Rudolf Loewy wird während der Pogrome des 9. November 1938 verhaftet und schwer misshandelt. Als er empört die SA- und SS-Männer darauf hinweist, dass er im Ersten Weltkrieg vier Jahre fürs Vaterland gekämpft habe und sie so mit ihm nicht umgehen dürften,
bekommt er zur Antwort, er solle das Maul halten. „Spätestens da wurde ihm klar“, so Esther Bejarano, „was für ein großer Fehler es war, nicht längst emigriert zu sein.“
Schon 1937 sind Esthers ältere Geschwister aus Deutschland ausgewandert. Der Bruder in die USA, die Schwester nach Palästina. Nach seiner Entlassung aus der Nazi-Haft versucht der Vater alles, auch den Rest der Familie außer Landes zu bringen. „Viel Geld hatten wir nicht, eine Ausreise nach Übersee war daher unmöglich.“Der Vater bewirbt sich bei einer jüdischen Gemeinde in der Schweiz – wird aber abgelehnt, und zwar wegen seiner nicht jüdischen Mutter. Nur „Volljuden“kämen für diese Anstellung infrage, so die Begründung. Esther Bejarano wird heute noch wütend, wenn sie daran denkt. „Auch das war Rassismus.“
1941 werden Rudolf Loewy und seine Frau nach Kowno in Litauen deportiert. Dass die Nazis sie dort sofort nach Ankunft ermorden, erfährt Esther erst nach dem Krieg. „Wenn ich daran denke, dass sie sich in einem Wald nackt ausziehen, sich mit anderen Opfern in einer Reihe aufstellen mussten und dann einfach abgeknallt wurden und in eine Grube fielen, dann wird mir heute noch schlecht.“
Esther selbst befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einem zionistischen Vorbereitungslager für die Auswanderung nach Palästina in der Nähe von Berlin. Das Lager wird 1941 von den Nazis geschlossen. Sie muss Zwangsarbeit leisten, bevor sie am 20. April 1943 – sie ist 18 Jahre alt – zusammen mit 1000 weiteren Juden aus Ber
lin deportiert wird. Der Elendszug kriecht drei Tage Richtung Osten. Als sich die Türen der Viehwaggons endlich in Auschwitz öffnen. Überall stehen SS-Männer mit Maschinenpistolen, um die Juden in Empfang zu nehmen. 299 Männer und 158 Frauen werden als arbeitsfähig registriert und dürfen vorerst weiterleben, die übrigen werden sofort vergast.
Esther und die anderen müssen sich nackt ausziehen, die Haare werden kahl geschoren. Ein Wachmann tätowiert ihr mit Nadel und blauer Tusche die Nummer 41.948 unter die Haut, dann wird sie zu Schwerstarbeit eingeteilt: Steine schleppen. Zu essen gibt es wässrige Suppe, in der fauliges Gemüse und Kartoffelschalen schwimmen. Die Rationen sind so bemessen, dass Häftlinge nach drei bis maximal sechs Monaten fast verhungert sind. Dann kommen sie ins Gas.
Es ist die Musik, die Esther Bejarano das Leben rettet: Die SS beauftragt eine ehemalige polnische Musiklehrerin damit, ein Lagerorchester aufzubauen, und Esther wird von der Orchesterleiterin gefragt, ob sie Akkordeon spielen kann. Das kann sie nicht, aber sie sagt ja – und bringt sich das unbekannte Instrument in Windeseile selbst bei. Dabei kommt ihr zugute, dass sie sehr musikalisch ist und schon seit Kindertagen Klavier spielt.
Morgens, wenn die Arbeitskolonnen rausmarschieren, und am Abend, wenn sie zurückkommen, steht das Orchester am Tor und macht Musik. „Besonders schlimm war, dass wir auch spielen mussten, wenn die Züge mit den neuen Häftlingen eintrafen“, so Esther. „Die Leute haben uns zugewinkt, haben wohl gedacht: Wo Musik gespielt wird, kann es so schlimm nicht sein. Es war furchtbar, denn wir wussten genau: Die gehen jetzt ins Gas und wir können nichts machen.“
Sie erkrankt an Typhus und wird ins jüdische Krankenlager
gebracht. Weil Juden keine Medikamente erhalten, sind die Überlebenschancen gleich null. Doch dann ist es ausgerechnet einer der schlimmsten Schlächter, der sie rettet: der SS-Mann Otto Moll, der „Henker von Auschwitz“, Herr über Gaskammern und Krematorien, bekannt dafür, dass er mit vier Schäferhunden an der Leine durchs Lager geht und die Tiere immer mal wieder auf Gefangene hetzt, die dann einfach tot liegen bleiben.
Moll ist ein Musikfreund und hört oft dem Orchester zu. Eines Tages bemerkt er die Abwesenheit des Akkordeons, erfährt, dass Bejarano krank ist, und befiehlt der Pflegerin, die Patientin auf die christliche Krankenstation zu verlegen und ihr Medizin zu geben. Sollte die Akkordeonspielerin sterben, so Molls Drohung, werde er auch die Pflegerin töten. So überlebt Esther – und versteht bis heute nicht, wieso Moll das für sie tat, denn gesprochen hat sie mit ihm nie.
Noch einmal hat Esther riesiges Glück: Und zwar im Herbst 1943, als auf Initiative des Internationalen Roten Kreuzes wenigstens solche Insassen Auschwitz verlassen dürfen, die in den Augen der Nazis „Mischlinge“sind, also teilweise „arische“Vorfahren haben. „So hat mir meine christliche Großmutter am Ende das Leben gerettet“, sagt Esther Bejarano und seufzt.
Sie wird mit 70 anderen Frauen ins KZ Ravensbrück verlegt, wo sie schwer arbeiten muss. „Erst schob ich Kohlenloren, später habe ich für die Firma Siemens in der Rüstungsproduktion gearbeitet. Wir haben Schalter für Unterseeboote montiert – und wann immer ich konnte, habe ich die Dinger falsch zusammengesetzt.“
Ende April 1945 nähert sich die Rote Armee dem KZ, und die SS schickt die Gefangenen auf Todesmärsche. „Es war unbeschreiblich. Wer hinfiel, wer nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen und blieb liegen. Es ist ein Wunder, dass ich das überlebt habe.“
In einem Waldgebiet zwischen Karow und Plau am See gelingt Esther und sieben anderen Frauen die Flucht. „Wir sind gelaufen und gelaufen und gelaufen, bis wir keine Kraft mehr hatten. Wir haben dann einen Bauern gefragt, ob wir bei ihm übernachten können und ob er was zu essen für uns hat. Wir durften in der Scheune bleiben und er hat uns einen ganzen Eimer mit Kartoffeln hingestellt.“
Am nächsten Tag, es ist der 3. Mai 1945, erlebt sie mit, wie in Lübz amerikanische und sowjetische Soldaten aufeinandertreffen, sich einander vor Freude in die Arme fallen. Ein Russe brüllt: „Der Krieg ist aus, Hitler ist kaputt!“und schleppt ein großes HitlerPorträt auf den Marktplatz. „Was war das für ein Fest! Ich habe auf dem Akkordeon amerikanische Songs ge
spielt, und die Russen, die Amerikaner und die Frauen aus dem KZ haben rund um das brennende Hitler-Bild getanzt und gelacht. Das war meine zweite Geburt.“
Was soll Esther Bejarano jetzt tun? Ihre Eltern sind tot, auch ihre Schwester Ruth haben die Nazis ermordet. Lebende Angehörige findet sie in Deutschland nicht mehr vor. Daher fällt sie den Entschluss, in Palästina, wo ihre Schwester Tosca mit ihrem Mann lebt, ganz neu anzufangen. Mit dem Dampfer „Mataroa“erreicht sie am 15. September 1945 Haifa. „Ich habe dann meiner Schwester und meinem Schwager einen Tag und eine Nacht lang alles erzählt, was mir in Auschwitz und Ravensbrück widerfahren war. Und danach habe ich beschlossen, das alles jetzt zu vergessen, nie wieder davon zu reden.“
Esther lebt in Palästina zunächst in einem Kibbuz, arbeitet später in einer Zigarettenfabrik und als Kinderpflegerin, bevor sie in Tel Aviv ein Gesangsstudium beginnt und sich zur Koloratur-Sopranistin ausbilden lässt. 1950 - inzwischen ist der Staat Israel gegründet heiratet sie Nissim Bejarano, einen jungen Kommunisten, dessen Familie aus Bulgarien stammt und der als LkwFahrer arbeitet. Tochter Edna kommt 1951, Sohn Joram 1952 zur Welt.
Das Ehepaar Bejarano sieht die Palästinenser-Politik Israels äußerst kritisch. Als Ehemann Nissim 1956 wegen des Sinaikrieges zur Armee eingezogen wird, fällt sein Entschluss, nie wieder eine Uniform anzuziehen. Esther Bejarano sagt: „Ich bin von den Nazis diskriminiert worden – und jetzt soll ich mitansehen, wie mein Volk ein anderes diskriminiert? Auf keinen Fall. Uns war klar: Wir mussten aus Israel weg.“
Und so kehrt Esther mitsamt Familie 1960 nach Deutschland zurück. „Freunde hatten uns erzählt, wie schön es in Hamburg ist und dass es da auch gar keine Nazis mehr gäbe. Für mich war nur wichtig, dass es eine Stadt ist, die ich noch nicht kenne. An einem Ort zu sein, an dem ich schon mit meinen Eltern gelebt hatte, das hätte ich nicht verkraftet.“
Es vergehen fast zwei Jahrzehnte, bis der NPDStand vor der Ladentür Esther Bejaranos Leben noch einmal grundlegend verändert. Aus einer schweigenden Frau wird jetzt eine, die den Mund aufmacht. Wenn nötig laut. Esther Bejarano wird Mitglie der VereiniVergung der folgten des Nazi-Regimes und gründet das Auschwitz-Komitee.
Sie erzählt vor Schulklassen aus ihrem Leben, damit kommende
Generationen erfahren, wohin Hass, Rassismus und Menschenverachtung führen. Sie kritisiert den Umgang mit Flüchtlingen und fordert ein härteres Durchgreifen gegen Rechtsextremismus. Sie tourt mit der Kölner Rap-Band „Microphone Mafia“durchs Land und macht Musik gegen Intoleranz. Immer noch. Jedenfalls bis Corona unser aller Leben veränderte.
Eins möchte sie noch erreichen, bevor sie die Bühne für immer verlässt: Dass der 8. Mai ein bundesweiter Feiertag wird. 2020 überreicht sie dem Bundestag eine Petition, die von mehr als 100.000 Bürgern unterstützt wird. Esther Bejarano findet: Sonntagsreden gegen wieder erstarkenden Rechtsextremismus reichen nicht. „Es muss gestritten werden für die neue Welt des Friedens und der Freiheit. Ein offizieller bundesweiter Feiertag wäre dafür die regelmäßige Verpflichtung.“
Vielleicht klappt es schon bis zum kommenden Jahr: Da plant Esther Bejarano eine große Befreiungsfeier in Raensbrück. Wenn dann ein Feiertag ist, können alle mitfeiern. Das ist ihre Hoffnung.