Salo Mullers Kampf gegen die Deutsche Bahn
HOLOCAUST Der Ex-Masseur von Ajax Amsterdam fordert Entschädigung: Seine Eltern wurden im Viehwaggon nach Auschwitz deportiert und ermordet
Er ist Physiotherapeut bei Ajax Amsterdam gewesen, hat Stars wie Johan Cruyff, Piet Keizer und Rinus Michels fit gemacht und wurde bei den Fans selbst zur Legende. Über seine Vergangenheit und die seiner Eltern, die in Auschwitz ermordet wurden, hat er fast ein halbes Jahrhundert kein Wort gesprochen. Aber heute – er ist inzwischen 87 Jahre alt –, da redet er.
Und er redet nicht nur. Er kämpft. Um Wiedergutmachung. Er klagt die Deutsche Bahn an. Denn es war die Reichsbahn, die seine Eltern und Millionen weiterer Juden zu den Vernichtungslagern transportierte und daran auch noch verdiente.
Von Salomon „Salo“Barend Muller ist die Rede. Anlässlich des heutigen Auschwitz-Gedenktages – vor 79 Jahren wurde das Vernichtungslager von der Roten Armee befreit – besucht er Hamburg und sitzt auf der Bühne des „Centralkomitees“in St. Georg, des ehemaligen „Polittbüros“. Seine Stimme ist rau, routiniert und leise. Im Zuschauerraum: junge Menschen, die ihm gespannt zuhören, während er seine Geschichte erzählt.
Es ist das Jahr 1942. Der Zweite Weltkrieg tobt seit drei Jahren in Europa. Die Wehrmacht hat
Polen, die Benelux-Staaten und Frankreich, Jugoslawien und Griechenland besetzt. Inzwischen führt Diktator Adolf Hitler auch Krieg gegen die Sowjetunion. Wehrmacht und SS plündern, morden und brandschatzen. Sie erschießen und vergewaltigen Zivilisten. Der industrielle Massenmord an den europäischen Juden, die Shoa, der Holocaust, hat begonnen. Dafür ist Logistik nötig – und die stellt die Deutsche Reichsbahn. Amsterdam an einem sonnigen Tag im Mai 1942: Salos Mutter sagt dem Sechsjährigen morgens zum Abschied: „Bis heute Abend … und sei ein braver Bub!“Er ahnt nicht, dass das das Letzte ist, was er je von seiner Mutter hören wird. Aus dem Kindergarten wird er abends von einem Nachbarn zu seiner Tante gebracht. Dann klopfen dort deutsche Soldaten an die Tür. Sie finden Salo, nehmen ihn mit – weil er Jude ist. Er kommt in das Theater Hollandsche Schouwburg in Amsterdam, das von den Nazis als Judensammelstelle zweckentfremdet wird. Es ist voll mit Hunderten Menschen. Plötzlich sieht Salo Muller zwischen all den Fremden seine Eltern, die von den Nazis ebenfalls abgeholt worden sind. Er rennt zu ihnen. Zwei deutsche Soldaten halten ihn auf. Der Junge wird in die Kinderkrippe des Theaters gebracht. Unterdessen werden seine Eltern in einen Viehwaggon der Deutschen Reichsbahn verfrachtet und nach Auschwitz transportiert so wie Tausende andere holländische Juden.
Die Bahn machte das nicht umsonst. Vier Pfennig stellt sie dem NS-Staat pro Person und Kilometer in Rechnung. Kinder kosten die Hälfte, ab 400 Menschen gibt die Bahn Rabatt. Dieses Geld holen sich Gestapo und Reichssicherheitshauptamt von den Menschen zurück, die sie in ihre Todeslager deportieren, und zwar indem sie deren Besitztümer, die Immobilien und den Hausrat, beschlagnahmen und verkaufen. Die Nazis ermorden also nicht nur die Juden Europas, die Juden müssen dafür sogar noch zahlen!
Kein Jahr nachdem Salo Muller sie das letzte Mal gesehen hat, werden seine beiden Eltern von den Deut
schen in Auschwitz ermordet. Seine Mutter Lena Blit tz wird am 12. Februar 1943 vergast. Seinen Vater Louis Muller töten sie am 30. April 1943. Das erfährt de Sohn allerdings erst sehr viel später.
Er selbst überlebt dank des jüdischen Kaufmanns Walter Süskind, der Dokumente für rund einhundert jüdische Kinder gefälscht hat. Aus diesen Papieren geht hervor, dass Salo Muller und die anderen längst deportiert sind. Die deutschen Besatzer glauben das – und suchen nicht nach ihnen. In Wahrheit aber befinden sich alle in Verstecken irgendwo in den Niederlanden. Salo Muller wird vom Widerstand nacheinander an acht verschiedenen Orten untergebracht, beispielsweise in Friesland, wo er „Japje“genannt wird. Jahrelang darf er nicht mit Gleichaltrigen spielen, lebt immer in der Angst, entdeckt und ermordet zu werden.
Mal lebt er auf einer Farm, um die herum zweihundert deutsche Soldaten stationiert sind. Jeden Samstag kommen sie, um dort zu essen. Salo muss sich währenddessen unter dem Wohnzimmerboden verstecken, wo Ratten und Mäuse ihn beißen.
Dann wieder gewährt ihm ein Bauer Unterschlupf: Der nimmt ihn einmal mit zum Einkaufen. Als der Händler im Lebensmittelgeschäft damit droht, das jüdische Kind zu verraten, ersticht der Bauer den Mann vor den Augen des Jungen mit einer Mistgabel und vergräbt dessen Leiche.
Als Salo Muller in der Wohnung eines Schuldirektors versteckt wird, passiert Folgendes: Als der geistig behinderte Sohn der Nachbarn damit droht, er werde allen sagen, dass hier ein fremder Mensch beherbergt wird, ergreift der Direktor den Jungen, schlägt ihn und hält ihm eine Pistole an den Kopf: „Wenn du das jemandem erzählst, bringe ich dich um!“
Am 5. Mai 1945 ist Salo Mullers Zeit im Versteck endlich zu Ende. Die Alliierten befreien die Niederlande. Zwei Tage später kapituliert die Wehrmacht bedingungslos. Das NaziReich ist endgültig zerstört. Mullers Tante hat den Krieg überlebt, und sie nimmt ihn zu sich. Das Kind leidet an Asthma, ist ängstlich, stottert. Er ist ein neunjähriger Junge, der nicht mehr weiß, wann er Geburtstag hat, und nur noch Friesisch spricht.
Mit zehn Jahren besucht er zum ersten Mal die Grundschule. Die Kinder in seiner Klasse sind vier bis fünf Jahre jünger als er. Salo will Arzt werden, besucht ein Elite-Gymnasium in Amsterdam, doch wegen rebellischen Verhaltens wird er der Schule verwiesen. Er wechselt auf eine Handelsschule, die er ohne Abschluss verlässt. Sein Traum, Mediziner zu werden, geht nicht auf. Dafür wird er Physiotherapeut. Und das nicht irgendwo, sondern beim besten Fußballklub der Niederlande: Ajax Amsterdam. Er ist bei jedem Spiel, bei jedem Training da. Er behandelt Fußball-Legenden wie Johan Cruyff, Piet Keizer, Rinus Michels und wird selbst zur Ikone. Wenn das Team zu Auswärtsspielen mit dem Zug reist, muss Muller daran denken, dass seine Eltern und viele andere Juden mit der Eisenbahn deportiert worden sind. Züge bereiten ihm „ein mulmiges Gefühl“: „Die Leute wurden in Viehwaggons transportiert, viele erstickten, es war furchtbar.“
den Film „Schindlers Liste“und gründet im Jahr darauf die USC Shoah Foundation, die die Erinnerung von Überlebenden sammelt. 1994 spricht dann zum ersten Mal Salo Muller öffentlich über seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Das ändert alles. Jetzt hält er Vorträge und veröffentlicht eine Autobiografie. Immer wieder muss er an Lena Blitz und Louis Muller denken, seine Eltern, die 1942 von den Deutschen in Güterwaggons verschleppt und 1943 in Auschwitz ermordet wurden. Er ist immer noch wütend, immer noch traurig – wie könnte er es auch nicht sein? 2014 beginnt er zu kämpfen. Die niederländische Bahn hat am Transport von Juden in den Tod mitverdient. Er fordert sie auf, die Opfer der Transporte zu entschädigen. Die Antwort ist ernüchternd: Ja, die NSZeit sei ja sehr schlimm gewesen, aber individuelle Entschädigung – das könne
Die Leute wurden in Viehwaggons transportiert, viele erstickten, es war furchtbar.