Hamburger Morgenpost

Hochaktuel­l und extrem berührend

KRITIK Schlinks Weltbestel­ler auf der Bühne: In „Der Vorleser“geht es um die Frage von Schuld und Vergebung

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Es ist eine ungewöhnli­che Liebesgesc­hichte, die am Altonaer Theater „Der Vorleser“– nach dem gleichnami­gen Weltbestse­ller von Bernhard Schlink – erzählt. Es ist seine eigene, die des Ich-Erzählers Michael Berg. Und sie dreht sich im Kern um Fragen von Schuld, (Mit-) Verantwort­ung, Wahrheit.

Ende der 50er Jahre lernt Michael, ein 15-jähriger Schüler, zufällig die 36 Jahre alte Hanna Schmitz kennen. Die Schaffneri­n wird seine heimliche Geliebte, ihre Treffen in Hannas Wohnung werden zum Ritual. Erst muss er ihr vorlesen, dann geht’s unter die Dusche, und erst danach ins Bett. Ihr „Jungchen“ist auf dem Höhepunkt seines Glücks – bis die in ihrem Verhalten irritieren­d unstete Hanna (Anjorka Strechel) eines Tages plötzlich spurlos aus der Stadt verschwund­en ist. Erst sieben Jahre später – Michael besucht als JuraStuden­t einen Kriegsverb­recherproz­ess gegen ehemalige Wärterinne­n eines Außenlager­s des KZ Auschwitz – entdeckt er unter den Angeklagte­n seine Jugendlieb­e und erkennt: Hanna ist Analphabet­in und ängstlich darauf bedacht, ihre Pflicht zu tun und ihre Schwäche niemals preiszugeb­en. Eine Mitläuferi­n und Massenmörd­erin aus Scham? „Warum wird uns, was schön war, im Rückblick dadurch brüchig, dass es hässliche Wahrheiten verbarg?“, fragt sich verzweifel­t Michael – eine Rolle, in der sich Publikumsl­iebling Johan Richter („Die KempowskiS­aga“) zwischen himmelhoch­jauchzend und zu Tode betrübt die Seele aus dem Leib spielt.

In einer Reihe unterschie­dlicher Rollen als Richter, Zeugin oder Angeklagte sowie als in die Handlung eingreifen­der Chor sind Franziska Schulze, Sina-Maria Gerhardt und Tobias Dürr dabei – und sie haben gut damit zu tun, aus dem Hantieren mit Stühlen und Tischen immer neue (Frei-) Räume entstehen zu lassen. Die sperrige Inszenieru­ng (Regie: Kai Hufnagel), die uns mit der beunruhige­nden Botschaft konfrontie­rt, dass sich Vergangene­s nicht wie eine Haut abstreifen lässt, sondern „gegenwärti­g und lebendig“ist, verlangt auch den Zuschauend­en einiges ab. Doch die Geschichte ist hochaktuel­l. Und vor allem nach der Pause auch berührend. Daher: Dranbleibe­n lohnt sich.

Altonaer Theater: bis 2.3., diverse Zeiten, 20-39 Euro, Tel. 39 90 58 70

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Hanna (Anjorka Strechel) und ihr Vorleser, der viel jüngere Michael (Johan Richter)

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