„Früher wurden wir bemitleidet, heute werden wir beneidet“
ST. GEORG Geliebt, gefürchtet und voller Gegensätze: Warum der Stadtteil mehr bietet als Drogen oder Armut – und erstaunlich friedlich ist
Geliebt und gehasst, lebensfroh und angsteinflößend, bunt und grau: Kaum ein Stadtteil ist so von Gegensätzen geprägt wie das Quartier direkt am Hauptbahnhof, wie St. Georg. Aber der drittälteste Stadtteil Hamburgs ist viel mehr als Drogen, Elend und Kriminalität. Wir fragten, warum die Bewohner ihr Viertel so lieben – und erfuhren, warum sie sich oft ganz falsch dargestellt fühlen.
Es ist ein schöner Tag in St. Georg, der letzte mit Schnee, und die Sonne scheint auf das glitzernde Weiß. Auf dem Hansaplatz spielt eine Handvoll junger Menschen mit und ohne Migrationshintergrund Fußball. Ein Mädchen mit Behinderung und seine Betreuerin gehen vorbei und werden gefragt, ob sie mitspielen wollen. „Alle meinen, St. Georg ist nur Droge, Kriminalität und Obdachlosigkeit. Doch es ist auch: Nachbarschaft, Solidarität und Hilfe“, sagt Michael Joho, Vorsitzender des Einwohnervereins, der die MOPO an diesem Tag durch seinen Stadtteil führt. Sein Ziel: Zeigen, dass St. Georg mehr ist als das, was in den Medien darüber geschrieben wird. Und das beginnt schon am Hansaplatz: „Viele fühlen sich hier sicherer als in jeder Nebenstraße“, so Joho. „Hier ist viel los, die Menschen passen aufeinander auf.“12.300 Einwohner hat St. Georg, das mit 1,8 Quadratkilometern zu den kleineren Stadtteilen in Hamburg gehört. Ein Vielfaches der Einwohner kommt jeden Tag zum Arbeiten: 45.000 Menschen, laut Joho. Und noch etwas ist außergewöhnlich: Angeblich hat St. Georg die höchste Polizeidichte in ganz Europa. „Auf der anderen Seite haben wir die meisten Sozialeinrichtungen in Hamburg, mehr als 500“, erzählt Michael Joho. Während er durch die Gassen läuft, spricht er über die vielen Communitys, die St. Georg so besonders und bunt machen. „In den günstigen Wohnungen leben noch immer viele Arbeiter“, sagt er und deutet auf einige schlichte Blocks. „Die verzierten Gebäude bestehen vor allem aus höherpreisigen Eigentums
Alle meinen, St. Georg wäre nur Kriminalität und Obdachlosigkeit. Doch es ist auch: Solidarität und Hilfe. Michael Joho, Einwohnerverein
wohnungen.“
Der Steindamm selbst gehört zum größten Teil der muslimischen, meist türkischen Gemeinschaft. Gemüsehändler, Dönerläden und türkische Klamottenläden reihen sich aneinander. Oft wird die Straße als die gefährlichste Hamburgs bezeichnet. Ladendiebstahl, Körperverletzung und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sind hier an der Tagesordnung. „Ich würde einem Juden nicht empfehlen, hier mit Kippa langzugehen“, so Joho. „Der Steindamm wirkt wie eine Grenze. Viele denken, dass der Stadtteil hier zu Ende ist“, sagt der Vereinsvorsitzende und überquert die vierspurige Straße. „Auf der anderen Seite leben hauptsächlich Menschen mit Migrationshintergrund. Rund um die Böckmannstraße liegt der Anteil bei über 50 Prozent.“Der Hamburger Durchschnitt liegt bei 39 Prozent. Die Centrum-Moschee mit ihren weiß-grünen Türmchen ist über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. „Anders als in vielen Kirchen ist hier immer etwas los. Ein Basar, ein Reisebüro, ein Café und Frauen- und Männergebetsräume“, erläutert der Vereinsvorsitzende. In dem Basar, der für sein vorzügliches Lammfleisch bekannt ist, tummeln sich Kunden aller Nationen, zwei freundliche Mitarbeiterinnen mit Hijab grüßen die MOPOReporter.
Am Pulverteich, nur einen Steinwurf entfernt, weht eine Regenbogenfahne im Wind. Hier, am Infopoint Hein & Fiete, in Gay Bars und Saunen, ist die schwule Community zu Hause. „Es fasziniert mich, dass es in dieser Ecke nicht einmal wirklich geknallt hat, seit ich hier lebe“, sagt Michael Joho. „Die Menschen leben friedlich und in Akzeptanz nebeneinander.“Trotz viel Harmonie und Verständigung im Stadtteil kann man die Probleme nicht wegreden. Viele seien Relikte aus der Gründungszeit, erklärt Joho: St. Georg und St. Pauli entstanden als dritter und vierter Stadtteil nach Altstadt und Neustadt, zunächst vor den Stadtmauern, um alles Dreckige und Gefährliche dorthin auszulagern. „In beiden Stadtteilen ist etwas vom diesem Charakter geblieben“, so der Vereinschef. „Die Obdachlosigkeit nimmt zu und es ist eine Unverschämtheit, dass die Politik Wohnungslose und ehrenamtliche Helfer vom Hauptbahnhof vertreibt. So verlagert sich das Problem nur weiter nach St. Georg.“Der Senat helfe den Bedürftigen nicht genug. „Wenn ich jedem Bettelnden etwas geben wollte, bräuchte ich einen zweiten Job.“
Die Stadtteiltour endet an der Straße, für die St. Georg auch bekannt ist. „Früher Nahversorgungsstraße, heute Restaurant- und Café-Meile: Die Lange Reihe ist nicht mehr das, was sie einmal war“, sagt Michael Joho. „Touristen und Gentrifizierung haben ihren Charakter grundlegend verändert. Die Mieten sind exorbitant hoch.“Das Nähmaschinenhaus in der Hausnummer 61 aus dem Jahr 1621 ist das älteste im Stadtteil, eines der ältesten Hamburgs und dazu noch ein besonders schönes. Seinen Namen hat es, weil es eines der letzten Nähmaschinenfachgeschäfte Deutschlands beherbergt. „In die Kneipe gehe ich lieber in Neben- und Parallelstraßen, wo nicht so viel Touri-Rummel ist“, sagt Michael Joho. Trotz aller Widrigkeiten: Michael Joho liebt sein St. Georg, für die Nachbarschaft, für die Vielfalt, für die lange Historie. „Wenn ich früher erzählt habe, dass ich hier lebe, wurde ich bemitleidet. Heute werde ich gefragt: „Wow, das kannst du dir leisten?“