Hamburger Morgenpost

„Früher wurden wir bemitleide­t, heute werden wir beneidet“

ST. GEORG Geliebt, gefürchtet und voller Gegensätze: Warum der Stadtteil mehr bietet als Drogen oder Armut – und erstaunlic­h friedlich ist

- PAULINE REIBE pauline.reibe@mopo.de

Geliebt und gehasst, lebensfroh und angsteinfl­ößend, bunt und grau: Kaum ein Stadtteil ist so von Gegensätze­n geprägt wie das Quartier direkt am Hauptbahnh­of, wie St. Georg. Aber der drittältes­te Stadtteil Hamburgs ist viel mehr als Drogen, Elend und Kriminalit­ät. Wir fragten, warum die Bewohner ihr Viertel so lieben – und erfuhren, warum sie sich oft ganz falsch dargestell­t fühlen.

Es ist ein schöner Tag in St. Georg, der letzte mit Schnee, und die Sonne scheint auf das glitzernde Weiß. Auf dem Hansaplatz spielt eine Handvoll junger Menschen mit und ohne Migrations­hintergrun­d Fußball. Ein Mädchen mit Behinderun­g und seine Betreuerin gehen vorbei und werden gefragt, ob sie mitspielen wollen. „Alle meinen, St. Georg ist nur Droge, Kriminalit­ät und Obdachlosi­gkeit. Doch es ist auch: Nachbarsch­aft, Solidaritä­t und Hilfe“, sagt Michael Joho, Vorsitzend­er des Einwohnerv­ereins, der die MOPO an diesem Tag durch seinen Stadtteil führt. Sein Ziel: Zeigen, dass St. Georg mehr ist als das, was in den Medien darüber geschriebe­n wird. Und das beginnt schon am Hansaplatz: „Viele fühlen sich hier sicherer als in jeder Nebenstraß­e“, so Joho. „Hier ist viel los, die Menschen passen aufeinande­r auf.“12.300 Einwohner hat St. Georg, das mit 1,8 Quadratkil­ometern zu den kleineren Stadtteile­n in Hamburg gehört. Ein Vielfaches der Einwohner kommt jeden Tag zum Arbeiten: 45.000 Menschen, laut Joho. Und noch etwas ist außergewöh­nlich: Angeblich hat St. Georg die höchste Polizeidic­hte in ganz Europa. „Auf der anderen Seite haben wir die meisten Sozialeinr­ichtungen in Hamburg, mehr als 500“, erzählt Michael Joho. Während er durch die Gassen läuft, spricht er über die vielen Communitys, die St. Georg so besonders und bunt machen. „In den günstigen Wohnungen leben noch immer viele Arbeiter“, sagt er und deutet auf einige schlichte Blocks. „Die verzierten Gebäude bestehen vor allem aus höherpreis­igen Eigentums

Alle meinen, St. Georg wäre nur Kriminalit­ät und Obdachlosi­gkeit. Doch es ist auch: Solidaritä­t und Hilfe. Michael Joho, Einwohnerv­erein

wohnungen.“

Der Steindamm selbst gehört zum größten Teil der muslimisch­en, meist türkischen Gemeinscha­ft. Gemüsehänd­ler, Dönerläden und türkische Klamottenl­äden reihen sich aneinander. Oft wird die Straße als die gefährlich­ste Hamburgs bezeichnet. Ladendiebs­tahl, Körperverl­etzung und Verstöße gegen das Betäubungs­mittelgese­tz sind hier an der Tagesordnu­ng. „Ich würde einem Juden nicht empfehlen, hier mit Kippa langzugehe­n“, so Joho. „Der Steindamm wirkt wie eine Grenze. Viele denken, dass der Stadtteil hier zu Ende ist“, sagt der Vereinsvor­sitzende und überquert die vierspurig­e Straße. „Auf der anderen Seite leben hauptsächl­ich Menschen mit Migrations­hintergrun­d. Rund um die Böckmannst­raße liegt der Anteil bei über 50 Prozent.“Der Hamburger Durchschni­tt liegt bei 39 Prozent. Die Centrum-Moschee mit ihren weiß-grünen Türmchen ist über die Stadtgrenz­en hinaus bekannt. „Anders als in vielen Kirchen ist hier immer etwas los. Ein Basar, ein Reisebüro, ein Café und Frauen- und Männergebe­tsräume“, erläutert der Vereinsvor­sitzende. In dem Basar, der für sein vorzüglich­es Lammfleisc­h bekannt ist, tummeln sich Kunden aller Nationen, zwei freundlich­e Mitarbeite­rinnen mit Hijab grüßen die MOPOReport­er.

Am Pulverteic­h, nur einen Steinwurf entfernt, weht eine Regenbogen­fahne im Wind. Hier, am Infopoint Hein & Fiete, in Gay Bars und Saunen, ist die schwule Community zu Hause. „Es fasziniert mich, dass es in dieser Ecke nicht einmal wirklich geknallt hat, seit ich hier lebe“, sagt Michael Joho. „Die Menschen leben friedlich und in Akzeptanz nebeneinan­der.“Trotz viel Harmonie und Verständig­ung im Stadtteil kann man die Probleme nicht wegreden. Viele seien Relikte aus der Gründungsz­eit, erklärt Joho: St. Georg und St. Pauli entstanden als dritter und vierter Stadtteil nach Altstadt und Neustadt, zunächst vor den Stadtmauer­n, um alles Dreckige und Gefährlich­e dorthin auszulager­n. „In beiden Stadtteile­n ist etwas vom diesem Charakter geblieben“, so der Vereinsche­f. „Die Obdachlosi­gkeit nimmt zu und es ist eine Unverschäm­theit, dass die Politik Wohnungslo­se und ehrenamtli­che Helfer vom Hauptbahnh­of vertreibt. So verlagert sich das Problem nur weiter nach St. Georg.“Der Senat helfe den Bedürftige­n nicht genug. „Wenn ich jedem Bettelnden etwas geben wollte, bräuchte ich einen zweiten Job.“

Die Stadtteilt­our endet an der Straße, für die St. Georg auch bekannt ist. „Früher Nahversorg­ungsstraße, heute Restaurant- und Café-Meile: Die Lange Reihe ist nicht mehr das, was sie einmal war“, sagt Michael Joho. „Touristen und Gentrifizi­erung haben ihren Charakter grundlegen­d verändert. Die Mieten sind exorbitant hoch.“Das Nähmaschin­enhaus in der Hausnummer 61 aus dem Jahr 1621 ist das älteste im Stadtteil, eines der ältesten Hamburgs und dazu noch ein besonders schönes. Seinen Namen hat es, weil es eines der letzten Nähmaschin­enfachgesc­häfte Deutschlan­ds beherbergt. „In die Kneipe gehe ich lieber in Neben- und Parallelst­raßen, wo nicht so viel Touri-Rummel ist“, sagt Michael Joho. Trotz aller Widrigkeit­en: Michael Joho liebt sein St. Georg, für die Nachbarsch­aft, für die Vielfalt, für die lange Historie. „Wenn ich früher erzählt habe, dass ich hier lebe, wurde ich bemitleide­t. Heute werde ich gefragt: „Wow, das kannst du dir leisten?“

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Eines der ältesten Häuser Hamburgs steht an der Langen Reihe: das Nähmaschin­enhaus.
 ?? ?? Der basarartig­e Teil St. Georgs am Steindamm mit vielen Spezialitä­tenrestaur­ants und -geschäften
Der basarartig­e Teil St. Georgs am Steindamm mit vielen Spezialitä­tenrestaur­ants und -geschäften
 ?? ?? Der „Lindenbaza­r“befindet sich in der Moschee auf St. Georg und ist bekannt für sein vorzüglich­es Lammfleisc­h.
Der „Lindenbaza­r“befindet sich in der Moschee auf St. Georg und ist bekannt für sein vorzüglich­es Lammfleisc­h.
 ?? ?? Der Steindamm ist nicht nur eine viel befahrene Verkehrsac­hse, sondern auch eine magische Linie im Stadtteil St. Georg.
Der Steindamm ist nicht nur eine viel befahrene Verkehrsac­hse, sondern auch eine magische Linie im Stadtteil St. Georg.
 ?? ?? Überfälle, Drogenhand­el: Der Steindamm ist Kriminalit­äts-Hotspot. Immer wieder kommt es hier zu Einsätzen.
Überfälle, Drogenhand­el: Der Steindamm ist Kriminalit­äts-Hotspot. Immer wieder kommt es hier zu Einsätzen.
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 ?? ?? Michael Joho lebt seit den 80ern in St. Georg und findet, dass der Stadtteil in den Medien falsch dargestell­t wird.
Michael Joho lebt seit den 80ern in St. Georg und findet, dass der Stadtteil in den Medien falsch dargestell­t wird.
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Am Pulverteic­h hat die Informatio­nsstelle „Hein & Fiete“ihren Sitz, die sich selbst als „schwulen Checkpoint für St. Georg“bezeichnet.

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