Das Kind, das es nicht gab
JENFELD Ämter, Nachbarn, Verwandte – sie alle sahen weg: Der Tod der kleinen Jessica schockiert ganz Deutschland. Die Eltern, verurteilt wegen Mordes, sind wieder auf freiem Fuß
Jessica. Ein Name, den viele Hamburger nie wieder vergessen werden. Für sie der Inbegriff unfassbaren Leids und Versagens. Es ist der 1. März 2005, der Hamburg verändert. Notärzte finden die Leiche der kleinen Jessica aus Jenfeld. Abgemagert bis auf die Knochen, gehalten wie ein Tier. Von den eigenen Eltern. Der Tod des siebenjährigen Mädchens ist das Ende eines grausamen, Jahre währenden Martyriums. An dessen Ende das Kind, das es nicht gab, aus lauter Verzweiflung seine eigenen Haare und Teppichfetzen aß.
Ämter, Nachbarn, Verwandte – sie alle sahen weg. Dabei hätte Jessica längst zur Schule gehen müssen. Doch als sie nicht erschien und ein Mitarbeiter erfolglos an der Wohnung geklingelt hatte, wurde lediglich ein Bußgeld verhängt.
Die Eltern reagierten nicht darauf und so wurde davon ausgegangen, dass die Familie weggezogen sei. Doch Jessica war da. Alleingelassen und hilflos hinter der weißen Haustür einer Wohnung in einer Hochhaussiedlung in Jenfeld. Eingesperrt in ein finsteres Zimmer mit Bett und Kleiderschrank. An den
Wänden Kratzspuren des verzweifelten Mädchens. Keine Spielsachen. Nicht mal ein Kuscheltier hatte das Kind. Die Fenster vernagelt. Die Scheiben abgeklebt mit schwarzer Folie. Die Heizung ausgestellt, der Regler mit Paketband verklebt. So hielten Jennifer R. und Gerd M. (Namen geändert) ihre Tochter, die in ihren letzten Lebensmonaten laut einem Gutachter nicht mehr gehen konnte, da ihre Glasknochen sonst sofort gebrochen wären.
Als ihre Leiche gefunden wurde, hatte Jessica kaum noch Haare, weil sie sich diese ausgerissen und gegessen hatte. Sie wog nur noch 9,6 Kilo – so viel wie ein einjähriges Kind. Während die Eltern die Katze regelmäßig fütterten, gaben sie der eigenen Tochter nur sehr selten etwas zu essen. Am Ende starb das Mädchen jedoch nicht durch das jahrelange
Hungern, sondern an der letzten Mahlzeit. Es hatte einen von der Mutter angebotenen Schokopudding heruntergeschlungen. Da der Darm mit Kot verschlossen war, konnte das Essen nicht weitertransportiert werden. Jessica musste sich übergeben und erstickte an ihrem Erbrochenen.
Mindestens fünf Jahre lang sollen Jennifer R. und Gerd M. ihre Tochter laut Anklage „böswillig gequält“haben. Die Eltern entschieden, sie sterben zu lassen, so die Anklage. Durch ein am Lichtschalter angebrachtes Stromkabel wollten sie einen Unfall vortäuschen. Als dies nicht gelang, wollten sie ihr Kind durch Nahrungsentzug töten.
Jessicas Vater wirkte vor Gericht vollkommen teilnahmslos. Er schwieg. Gegenüber Polizisten hatte er zuvor angegeben, seine Tochter zuletzt „Ende 2004 oder Anfang 2005“gesehen zu haben. Ein Gutachter stellte eine „erschreckende Gleichgültigkeit“durch langjährigen Alkoholmissbrauch bei Gerd M. fest. Jessica sei die Sache seiner Frau, habe der arbeitslose Lackierer beschlossen.
Die Mutter sagte im Prozess, Jessica sei kein
Durch Jessicas Tod gerieten die Behörden massiv in die Kritik. Wie konnte so etwas geschehen – mitten in Hamburg?
Wunschkind gewesen, sie habe versucht, das Baby selbst abzutreiben. Doch als es da gewesen sei, habe sie sich „ganz normal um das Kind gekümmert“. Jennifer R. behauptete, dass ihre Tochter nicht mehr hinausgehen wollte und sie Jessica regelmäßig fütterte. Doch das Mädchen habe das Essen meist verweigert. „Zicke“, wie die Eltern sie nannten, habe in der letzten Nacht ihres Lebens „gemeckert“, sagte die Mutter. Laut Rechtsmedizin war Jessica bis zuletzt bei vollem Bewusstsein und muss in den Tagen vor ihrem Tod unter starken Schmerzen gelitten haben. Durch Jessicas Hungertod gerieten die Behörden massiv in die Kritik. Wie konnte so etwas mitten in Hamburg nur geschehen? Gesetze wurden geändert, der „Schulzwang“in Hamburg eingeführt. Der Senat beschloss ein umfangreiches
Maßnahmenpaket. Und dennoch bleibt der Fall Jessica für viele die Geschichte unfassbaren Leids und unglaublichen Versagens. Mord durch Unterlassen, so lautet das Urteil am 25. November 2005. Jessicas Eltern wurden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Seit 2020 sind sie wieder auf freiem Fuß.