Chance für Polzin — aber die Trainersuche läuft
ZUKUNFT Assistent nach WalterAus jetzt Chef – doch wie lange?
Ein neuer Impuls war nötig, ehe der geplante Aufstieg dem HSV auch im sechsten Versuch aus den Händen gleitet. Diese Einsicht war es, die Sportvorstand Jonas
Boldt am Sonntagabend die Reißleine ziehen ließ – mit dem Resultat, dass Tim Walter nicht mehr Trainer des HSV ist. Auch die Assistenten Filip Tapalovic und Julian Hübner wurden freigestellt, fürs Erste übernimmt Merlin Polzin, der am Samstag in Rostock definitiv als Chef auf der Bank sitzen wird. Parallel dazu fahndet Boldt in dieser Woche nach geeigneten Alternativ-Kandidaten.
Fast wirkte es, als wollte Polzin seinem alten Boss nachträglich noch ein wenig Respekt zollen. Um 14.58 Uhr führte der 33-Jährige die HSV-Profis am Montag erstmals als Cheftrainer auf die Plätze im Volkspark, er tat das versteckt im Pulk, ohne irgendwie auffallen zu wollen. Allzu lange wird er dem Rampenlicht allerdings nicht entkommen können. Denn Polzin steht nun in der ersten Reihe.
Etwa 40 Minuten vor dem Training hatte Boldt ihn mit Komplimenten überhäuft. „Er bekommt definitiv die Chance, und das aus voller Überzeugung“, so der Sportvorstand auf der einberufenen Pressekonferenz. Polzin sei fraglos ein „sehr, sehr großes Trainer-Talent“. 2020 war er Daniel Thioune als Assistent zum HSV gefolgt, arbeitete anschließend auch unter Walter. Gemeinsam mit Torwart-Trainer Sven Höh und Loic Favé, seit Januar Leiter Sport beim HSV-Nachwuchs, soll Polzin nun für das sorgen, was Walter nicht schaffte: eine größere Stabilität, die bereits in Rostock zu drei Punkten führt.
Wie es danach weiter geht, bleibt allerdings offen. „Wir werden überlegen, was eine mittel- und langfristige Lösung sein könnte“, machte Boldt klar. Dass Polzin einen Platz im neuen Trainerteam haben werde, stehe jedoch fest, „in welcher Konstellation auch immer“. Damit deutet zumindest vieles darauf hin, dass nicht von einer Blitz-Lösung im Volkspark auszugehen ist. „Wir werden uns nicht treiben lassen“, ließ Boldt dann auch wissen. Die für den Sportvorstand so schwierige Frage: Welcher Trainer passt nach Walter am besten zum HSV? Wem traut der Boss zu, den wohl besten Kader der Liga auch wirklich nach oben zu führen? Und wie groß darf der Einschnitt durch den Neuen sein? „Wir werden k e i n e n 180-GradWechsel vollziehen“, kündigt Boldt an. Kandidaten gibt es reichlich. Schon in den vergangenen Wochen, nachdem die HSV-Bosse Walter zunächst noch das Vertrauen aussprachen, wurde immer wieder Steffen Baumgart geh ande l t . Tatsächlich würde der im Dezember
in Köln gefeuerte Coach liebend gern zum HSV wechseln. Doch nach MOPOInformationen gab es bis Montagabend keine Kontaktaufnahme seitens des HSV mit dem Trainer, der nach seinem Dubai-Kurztrip wieder im Lande ist. Baumgart ist nicht der einzige Trainer, der für den HSV interessant wäre. Das trifft ganz sicher auch auf Raphael Wicky zu. Der Ex-HSV-Profi (Dezember 2001 bis 2007), der im Vorjahr mit YB Bern Schweizer Meister wurde und die Tabelle erneut anführt, wird zum engeren Kandidatenkreis gezählt. Sein Vorteil: Er kennt den HSV bestens, weiß, worauf er sich einlassen würde. Der Druck, der den Verein umgibt, wäre für Wicky, der einst mit dem HSV sogar in der Champions
League spielte, nicht neu. Die Berner stellten am Montag gleich mal klar, was sie von all dem halten. „Wir stehen vor wichtigen Spielen“, so YB-Mediensprecher Albert Stadenmann. „Für uns ist klar, dass wir diese mit Raphael Wicky bestreiten.“Bereits am Donnerstag empfängt Bern in der Europa League Sporting Lissabon. Zu Gerüchten wolle man keine Stellung beziehen. Deutliche Ansagen – die aber auch bereits als Einstieg in einen möglichen Poker um den Trainer zu verstehen sein könnten.
Und ansonsten? Boldt-Intimus Friedhelm Funkel (70), der mit sechs Aufstiegen Deutschlands Rekordtrainer ist, könnte beim HSV ins Spiel kommen, wenn andere Optionen platzen. André Breitenreiter werden kaum Chancen eingeräumt. Urs Fischer (früher Union Berlin) kann sich in einem anderen Regal als in der Zweiten Liga bedienen. Gehandelt wird auch Augsburgs Ex-Trainer Enrico Maaßen. Boldt kennt ihn bestens, soll ihm dem Vernehmen nach auch sehr schätzen. Eine Kontaktaufnahme gab es nach MOPOInformationen aber auch hier am Montag noch nicht. So bleibt Polzin erstmal der starke Mann. Die Entscheidung, dass er die Mannschaft nun zunächst einmal übernehmen dürfe, habe er „mit strahlenden Augen und einem klaren Ja“aufgenommen, wusste Boldt zu berichten. Und er klotzt ran. Erste Maßnahmen: Nach seiner 80-Minuten-Einheit beim gestrigen Auftakt, gibt es in den kommenden beiden Tagen gleich zwei Doppelschichten. Anders als zuletzt unter Walter, der nur an einem Tag pro Woche zwei Mal trainieren ließ. Polzin will seine Gelegenheit nutzen. Wie lange Boldt ihm die Chance gewährt. als Chef zu arbeiten, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. Klar ist: Der Sportvorstand braucht jetzt eine gute Lösung, die den HSV zum Aufstieg führt. Ansonsten könnte Boldt – der sich seit 2019 vergeblich am großen Ziel versucht – im Sommer der Nächste sein, der weichen muss. Der Aufstieg sei „das übergeordnete Ziel“, erklärte er am Montag. „Da geht es dann um die Sache und nicht um Personen.“Das galt für Walter. Und gilt nun insbesondere für Boldt.
Wir haben hier ein sehr großes Trainer-Talent. Er ist ein junger Kerl, der sich super entwickelt hat. Jonas Boldt über Merlin Polzin