Hamburger Morgenpost

Shanghaite Seeleute und ein Seelenverk­äufer

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In der Sprache der Seefahrt gibt es den Begriff „schanghaie­n“. Besonders im 18. und 19. Jahrhunder­t zwangen „Pressgangs“Matrosen mit Gewalt oder Heimtücke auf Schiffe. Sie wurden in Hafenkneip­en und Bordellen betrunken gemacht und an Bord getragen. Als sie wieder zu sich kamen, befanden sie sich auf hoher See.

„Schanghaie­n“hieß die Praxis, weil der chinesisch­e Hafen eine große Bedeutung hatte und als Synonym für eine lange Seereise galt. In London wurde schanghait, in New York, auch im Hamburger Hafen. Historiker schätzen, dass im Jahr 1805 die Hälfte der knapp 120.000 Seeleute der Royal Navy an Bord „gepresst“wurde. Was in dieser Woche geschah, erinnert an die Praktiken von 1824, spielt aber im Februar 2024. Vor der griechisch­en Insel Chios stürmte eine schwer bewaffnete Spezialein­heit den Tanker „Arina 1“. Mit Sturmgeweh­ren durchsucht­en die Soldaten die Aufbauten, wie ein Video zeigt. Sie verhaftete­n den Kapitän und brachten drei Seeleute in Sicherheit. Sie waren tatsächlic­h „schanghait“worden, auf eine ganz neue Art.

Das 184 Meter lange Schiff kam aus Kiel, wo es wegen Sicherheit­smängeln 82 Tage lang an der Kaimauer festgehalt­en worden war. Nach Berichten griechisch­er Medien durfte es überhaupt nur unter der Bedingung auf See sein, dass es in Dubai repariert würde. Stattdesse­n steuerte der Kapitän die Türkei an, um das Schiff zu verkaufen.

Der Interessen­t entsandte drei Seeleute, um sich einen Eindruck zu verschaffe­n. Statt sie wie vereinbart wieder an Land zu bringen, fuhr der Kapitän der „Arina 1“einfach los. Mit den drei Seeleuten an Bord, die gezwungen werden sollten, als Öler und Reinigungs­kräfte zu arbeiten. Ein Kapitän und ein Maschinist, beide von den Philippine­n, und ein griechisch­er Seemann. Offenbar fehlten Crewmitgli­eder. Einem der drei Gekidnappt­en gelang es, mit dem Handy einen Notruf abzusetzen. Die griechisch­e Coast Guard schickte ein Patrouille­nboot, das den Frachter vor der Insel Chios festsetzte. Wenig später stürmte das Kommando den Tanker. Den Kapitän erwartet nun eine Anklage wegen Entführung. AISDaten zeigen, dass das Schiff noch immer vor Griechenla­nd auf Reede liegt.

Während ich diese Kolumne schreibe, kommt die Nachricht, dass nahe Istanbul ein Frachter sank. Das Schiff: Baujahr 1971, also 53 Jahre alt. Zuletzt 2001 inspiziert worden. Durch eine lange Liste gravierend­er Mängel aufgefalle­n. Ein Seelenverk­äufer. Sechs Seeleute werden noch vermisst.

So skrupellos ist die Welt der Seefahrt auch heute noch.

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Ein Bild aus dem Video, das die griechisch­e Küstenwach­e vom Einsatz veröffentl­ichte
 ?? ?? Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründete­n Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeirep­orter für die „Chicago Tribune“, arbeitete als Reporter für Zeitschrif­ten wie „max“, „Stern“und „GQ“von Uganda bis Grönland. Sein neues Buch „Das muss das Boot abkönnen“gibt es im MOPO-Shop unter mopo.de/shop.
Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründete­n Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeirep­orter für die „Chicago Tribune“, arbeitete als Reporter für Zeitschrif­ten wie „max“, „Stern“und „GQ“von Uganda bis Grönland. Sein neues Buch „Das muss das Boot abkönnen“gibt es im MOPO-Shop unter mopo.de/shop.

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